26. Mai 2011

"Sneaker Pimps liegen im Koma"

Interview geführt von

Chris Corner ist der Kajalkönig des Underground. Mit I Am X kann sich der Londoner kompromisslos verwirklichen. Aber was will ein Engländer in der deutschen Provinz? Warum klingt das aktuelle Album "Volatile Times" so anders? Und gibt es ein Leben ohne Make Up? Fragen über Fragen, die der freundliche Brite gern humorvoll kommentiert.

I Am X ist bislang noch immer ein Geheimtipp für viele. Worin liegt denn das Besondere?

Wunderbar, ich darf mich selbst loben. Ich danke dir. I Am X ist ein künstlerisches Gesamtkonzept. Getragen von vielen optischen Elementn wie akustischen. So in etwa würde ich das sagen.

Du hast gern viel Pathos und Weltschmerz im gesanglichen Vortrag. Keine Angst, zum Kitschtypen vom Dienst zu mutieren wie die Musical-Heinis?

Das gehört dabei nun einmal dazu. Es ist ein wenig wie der dramatische Effekt im Theater. Man nimmt hier und da ein wenig. Damit kann ich die Stimmung des jeweiligen Liedes veranschaulichen und auch auf der Bühne darstellen. Sobald das auch nur entfernt an Musical-Gestik erinnern sollte, darf man mich aber gern unsanft von der Bühne holen. Das wäre nun wirklich furchtbar.

Und das viele Make Up? Die verschiedenen Gesichter?

Das ist nun so eine Sache. Aber da muss ich dich gleich rückfragen. Wer denn bitte soll sich denn noch in der Öffentlichkeit anmalen, wenn es die Künstler nicht mehr tun?

Berechtigter Einwand.

(Grinst) Siehst du.

Ich wollte aber eher auf den Psychoaspekt hinaus. Ein Alterego wie Ziggy Stardust? Alice Cooper hat mir letztens erzählt, er knippse den Bühnencharakter vor dem Gig einfach an und danach wieder aus.

So etwas ist es bei mir in der Tat nicht. Natürlich hat Cooper recht. Wer das nicht refexartig kann, dürfte mentale Probleme haben. Ich bin da ganz anders. Viel schlimmer! Bei mir ist das gar keine Rolle. Ich benutze das Make Up mehr als eine Art Spiegel des Inneren. Als expressiven Aspekt meiner Stimmungen.

Der expressive Aspekt deiner Stimmungen? Sehr smart formuliert.

(Lacht gewinnend) Nicht wahr? Nach dieser Aussage wissen die Journalisten immer, dass sie es mit einem (ironisch) 'Musiker und Intellektuellen' zu tun haben. Aber das ist eben wirklich keine Übertreibung. Wenn wir uns in einer Kneipe verabreden würden, könnte es sein, dass ich abends geschminkt auftauche. Das ist aber keine Maske, sondern das Gegenteil. Es ist erweiterter Ausdruck.

Hast du denn nicht selbst Angst, missverstanden zu werden? Die rote Linie zwischen coolem Künstlerkonzept und narzistischer Selbstdarstellung ist doch sehr fein und schnell übertreten.

Du meinst, ich solle mal zusehen, mich damit nicht vollkommen zum Idioten zu machen? Das wäre natürlich kontraproduktiv. Da gebe ich dir recht. (Lacht) Man sollte schon als Musiker immmmer darauf achten, dass das Verhältnis zwischen optischen Elementen und den Songs nicht kippt. Wir machen ja kein Musiktheater. Wir machen in erster Linie Musik und bereichern sie mit einigen Verzierungen. Das ist schon alles. Klingt noch einigermaßen gesund, meinst du nicht auch?

Und was ist mit deiner Kultband Sneaker Pimps? Alles tot oder nur ein wenig auf Eis?

Im Moment zumindest im Koma. Na, du siehst ja selbst, wie ausgelastet ich bin. Das hat aber keine zwischenmenschliche Komponente. Wir haben uns nicht gestritten oder so. Das Verhältnis – also die Freundschaft – hat auch nicht gelitten. Wir mögen uns nach wie vor. Nur hat sich das Leben der anderen eben in eine ganz andere Richtung entwickelt als meins. Die haben geheiratet, Familien gegründet. Sneaker Pimps sind bei ihnen ganz notwendig in den Hintergrund getreten. Ich habe mich da anders entwickelt. Der verrückte Künstlertyp mit dem extrovertierten Vagantenleben. Ich brauche das ganz einfach. Deshalb gehen wir nun unsere eigenen Wege. Aber sag niemals nie. Vielleicht reanimieren wir die Band eines Tages. Aber momentan ist da nichts geplant.

"Ich bin so ein rastloser Typ"

Lass mich dir eines sagen. Meine feste Überzeugung: Mit Kingdom Of Welcome Addiction hast du Glam und Darkwave gleichermaßen den Arsch gerettet. Ein wenig Würde für die peinlich stagnierende Szene.

(Feixend) Gib mir mehr. Ich mag deine Art, über meine Sachen zu sprechen.

Warte nur. Wo ist denn diese Würde beim aktuellen Album Volatile Times?

Was soll ich denn darauf sagen?

Am besten, wie es ist.

Nein, da musst du schon konkreter werden. So kann ich nichts dazu sagen.

Ok, gern. Ehedem geil unkonventionelle Percussion inklusive Kastagnetten. Große Melodien von hart bis zart und perfekt poppige Lovesongs wie "My Secret Friend". Wo sind diese großartigen Tracks geblieben?

Die sind alle da. Warte es nur ab. Es braucht wohl ein wenig. Dieses Album hat sich eben in eine ganz andere Richtung entwickelt als "Kingdom". So etwas plane ich aber nicht vorher. Das passiert einfach im Verlauf. "Volatile Times" ist direkter und elektronischer geworden. Das gebe ich zu.

Ich vermisse vor allem das Piano als zentrales Kompositionswerkzeug.

Das kannst du nun wirklich nicht sagen. Im Gegenteil. Für diese Platte habe ich wesentlich mehr am Piano komponiert als vorher.

Mag sein. Nur hört man es der fertigen Produktion nicht an. Der rote Faden als stetiges Duell zwischen Percussion und den diversen Tasten fehlt dem Hörer sehr. Das war doch gerade deine ganz eigene Errungenschaft.

Natürlich freut mich das sehr, wenn du so etwas sagst. Genau diesen Effekt wollte ich damals auch erzielen. Nun ist es anders. Es ist immer anders. Bei vielen Bands sagen die Leute immer 'Ach, das klingt wie immer. Nichts neues!' So was könnte ich gar nicht. Ich setze mich auch nicht hin und mache alles jedes mal ganz bewusst und verkrampft anders als vorher. So ist das nicht. Aber das Ergebnis ist immer unterschiedlich. Wahrscheinlich bin ich so ein rastloser Typ, der ganz automatisch immer nach etwas Neuem sucht. Neu im Ausdruck und neu im Eindruck. Es würde mir schwer fallen, mich zu wiederholen. Selbst, wenn es eine klar definierte Auftragsarbeit wäre. Ist einfach nicht meine Natur.

Also leider keine Chance für AC/DC, Bad Religion und Status Quo, dich anzuwerben?

Nicht wesentlich größer als bei den Sneaker Pimps. Ich bedaure.

Wir kommen darüber hinweg. Dafür hast du ein schönes Lied namens "Bernadette" auf der Platte. In Deutschland ist der Name ausgestorben und gilt als altmodisch. Gibt es im Vereinten Königreich noch Mädchen, die so heißen?

Oh ja, absolut. Wie irritierend. Das ist doch ein schöner Name. Und ein echter noch dazu. Ich kenne nämlich eine Bernadette. Sie ist eine tolle Freundin, steht mir sehr nah und stand dem Lied auch Pate. Und sie sollte natürlich einen eigenen Song von mir bekommen mit unverwechselbarem Titel.

Tolle Idee. Hat leider nicht geklappt. Immerhin hat der gute Russ Ballard schon 1985 einen gleichnamigen auch sehr schönen Track verfasst.

Tatsächlich? Wusste ich nicht. Hätte ich noch mal vorher googeln sollen. (Lacht) Aber das ist auch nicht schlimm. Ist es eben der erste britische Track seiner Art. Ich werde mir das andere Lied aber anhören und heimlich Vergleiche aufstellen.

"Jeder Stein in Berlin ist legendär"

Erstaunlich und herausragend ist für mich "Music People". Die Alarmsirene samt galoppierender Steigerung am Ende als kritisches Symbol gegen die Musikindustrie. Sehr 'ungeschminkt'.

Galoppierende Steigerung? Sehr schön beschrieben. Das trifft es. Darf ich die Beschreibung zukünftig verwenden? Du triffst den Nagel auf den Kopf. Wir müssen doch ganz klar unterscheiden zwischen Musik als Kunstform und Musik als rein industrielle Dienstleistung bzw als rein industrielles One Way-Produkt. Man hat immer die Wahl. Entweder gehört man zu den Künstlern oder zur Industrie. Bei den Musikern gibt es dann zwei Sorten. Die einen verkaufen sich ganz bewusst. Andere – und das ist richtig tragisch – sind eher Opfer einer lang anhaltenden Manipulation. Am Ende wird auch der Künstler zum reinen, ganz und gar austauschbaren Produkt. Da wollte ich einfach auch mal meine zwei Cent dazu geben.

Und wenn man dir die Millionen Pfund Sterling anböte?

Ich würde sie nehmen und rennen. (Pause; lacht) Im Ernst: Natürlich möchte ich auch viel verkaufen. I AM X darf gern die ganze Welt kennen und lieben. Wie bei fast allen Künstlern ist mein übersteigertes Sendungsbewusstsein und die Egozentrik absolut intakt. Man darf nur nicht den Beruf verraten, den man ausübt. Das fängt da an, wo man Sachen absichtlich ganz anders macht und die eigene Person auch anders darstellt, nur um in das Verkaufsschema zu passen. Wenn das jetzt zu sozialistisch klingt, musst du mich auch bremsen ...

Gar nicht. Ich freue mich, dass du nicht in Bitternis versinkst.

Warum das denn?

Da schreibst du mit "Kingdom" einen modernen Klassiker, und die breite Öffentlichkeit merkt es nicht. Jetzt ist der Genie-Moment verpufft, weil die Vermarktung – um es vorsichtig zu sagen – wohl recht defensiv war. Pulver verschossen? Wie geht man damit um?

Solche Gedanken muss ich mir als produktiver Musiker doch verbitten. Wer über so etwas grübelt, baut sich die kreative Blockade doch gleich selbst ein. Da würde ich jeden Bezug zur Kunst verlieren und verkrampfen.

Dann bekommt wieder nur Brian Molko den ganzen Ruhm. Was entgegnest du denn, wenn dich jemand wegen der stimmlichen Ähnlichkeit und dem gemeinsamen hedonistischen Weltschmerzansatz kritisiert?

Was soll ich da sagen? Ich mache mein Ding und Placebo ihres. Ich bin ja mindestens ebenso lang dabei wie die Jungs. Deshalb wirft man mir auch kein Kopieren vor. Und die leichte Ähnlichkeit in der Klangfarbe des Gesangs. Das ist eben so in einem Inselstaat mit begrenztem Genpool. Aber da lasse ich mir auch keine grauen Haare wachsen.

Hast du die grauen Haare nicht spätesten hierzulande bekommen? Wie kommt ein Engländer aus dem coolen swingin' London denn auf die Idee, nach Deutschland zu ziehen? Und dann auch noch das Dreck starrende Berlin? Ist es die glamouröse Vergangenheit mit Iggy Pop und David Bowie? R.E.M. stehen derzeit ja auch sehr auf die Hauptstadt.

Man sollte glauben, bei einem Typen wie mir muss das natürlich der Glamfaktor sein. War es aber nicht. Ich habe mir bislang noch nicht einmal die Mühe gemacht, zu schauen, wo genau das war mit Bowie damals. Man hat hier ja die totale Reizüberflutung. Jeder Stein ist legendär. Aber meine ganz wilden Zeiten habe ich mittlerweile auch hinter mir. Deshalb lebe ich derzeit auch nicht direkt in Berlin, sondern in einem ruhigeren Ort. Das ist perfekt. Ich kann mich jederzeit in den Trubel stürzen. Klingt uncool, nicht wahr?

Für mich ist I AM X ein wenig die Fortführung des Geistes von Gavin Friday und den Virgin Prunes mit anderen Mitteln.

Interessant, dass du das sagst. Ich schätze Friday sehr. Einer der allergrößten Künstler, die wir da oben haben. Wenn du da Parallelen im Ausdruck siehst, fühle ich mich geehrt. Es ist wohl diese besondere Form der Sinnlichkeit, auf die wir beide intuitiv achten.

Vielen Dank für das schöne Gespräch.

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