laut.de-Kritik
7-CD-Box der Toxic Twins. So überfällig wie enttäuschend.
Review von Michael Schuh"What others imitated, Iggy originated": Das Label RCA wusste 1977 offenbar schon erfrischend gut Bescheid über das Standing seines neuen Klienten Iggy Pop und druckte diesen weisen Spruch auf ein Promo-Plakat für "The Idiot". Der Geehrte selbst konnte nicht glücklicher sein: Drei Jahre nach der Implosion seiner Band The Stooges und einem vorläufig erfolgreichen Drogenentzug brachte ihn sein britischer Fan David Bowie beim Majorlabel RCA unter, das auch seine Platten veröffentlichte. Bowies Worte hatten damals zwar durchaus Gewicht, seine Labelbosse dürften jedoch erst zufrieden gewesen sein, als sie hörten, dass er diesem unzuverlässigen Szene-Idol ohne jegliche Nähe zu Hitsingles bei dessen Neustart als Solokünstler unterstützen würde.
Heute gelten "The Idiot" und "Lust For Life", ähnlich wie die zeitgleich aufgenommenen Bowie-Alben "Low" und "Heroes" als legendär. Bis auf "The Idiot" sind alle in den Berliner Hansa-Studios nahe der Mauer aufgenommen worden, wo die Musiker auch über zwei Jahre lebten. "Heimat means home / gemütlich home", sang Iggy 2016 im Song "German Days", nachdem der alte Partner Bowie schon drei Jahre zuvor in "Where Are We Now?" nostalgisch wurde. Nicht nur blickten hier zwei alte Herren sehnsuchtsvoll auf ihre Jugend, sondern auch auf ein Berlin, das es längst nicht mehr gibt. "The Idiot", "Lust For Life" und vor allem Bowies Alben sind heute Bestandteil des Mauerstadt-Mythos, den diverse "Berlin Music"-Touristenrundfahrten füttern.
Es ist somit überfällig, dass diesen beiden Alben in ausschweifender Form Respekt gezollt wird. Sie beeinflussten die Musikgeschichte nachhaltig und prägten u.a. Künstler wie Siouxsie Soux, Nick Rhodes (Duran Duran), Martin Gore (Depeche Mode) und Youth (Killing Joke), die für das Booklet dieser 7-CD-Box ihre Aufwartung machen. Das ist zwar schön, aber leider kam niemand auf die Idee, Iggy Pop selbst zu dieser Zeit zu befragen. Dabei redet der doch so gern. Und hier fängt das Problem mit "The Bowie Years" an.
Für rund 80 Euro bekommt man die genannten Alben in Remastered-Versionen, die sich mit klanglich bereits sehr guten Originalen messen lassen müssen, dazu das Album "TV Eye 1977 Live", mit dem Iggy damals aus seinem Vertrag mit RCA raus wollte, drei (!) eher räudige Live-Auftritte aus demselben Jahr und eine Outtakes-CD mit überschaubarem Neuigkeitsgehalt. Wenn ein Boxset in einer Raritäten-Tracklist auf "Single Edits" und - als Steigerung - "Mono Single Edits" zurück greift, herrscht immer höchste Alarmstufe. Die alternativen Versionen von "Tiny Girls", "Baby" und "China Girl" unterscheiden sich denn auch marginal von den Albumtracks und der Live-Track "I Got A Right", hier als Single-Version gepriesen, ist eine zwei Sekunden kürzere Version des "TV Eye 1977 Live"-Tracks aus Kansas City. Erstaunlich dreist. Immerhin das "Interview with Iggy about Recording the Idiot" ist interessant, mit viereinhalb Minuten Länge aber auch nicht gerade üppig. Es scheint aus dem Jahr 1987 zu stammen, eine Information, die man nicht im Booklet findet, sondern nach der man im Netz lange suchen muss.
Immerhin hören wir aus dem Mund des jungen Iggy, wie die noch halbwegs frische Zusammenarbeit mit Bowie lief. Der Brite weihte ihn von Schöneberg aus in kulturelle Stützpfeiler des europäischen Abendlandes ein: "Er zeigte mir, was Tristan Tzara damals in Zürich mit den Dadaisten gemacht hat, wie man einen guten Wein auswählt und was zum Teufel ein Entrecote ist. Ich hatte von diesen Dingen keine Ahnung." Im Arbeitsverhältnis mit Bowie übernehme jener die Rolle eines Filmdirektors, führt Pop aus, manchmal sei das schwer zu ertragen, aber wenn man sich neuen Sichtweisen nicht verweigere, würde man am Ende mit guten Resultaten belohnt. "Dum Dum Boys" als Farewell-Song über seine Zeit bei den Stooges zu verfassen, war eine dieser Ideen, die Iggy zunächst ablehnte.
Die gegenseitige Liebe von RCA und Iggy war nur von kurzer Dauer. Das experimentelle, mit Elektronik flirtende "The Idiot" wurde überraschend positiv aufgenommen, aber als das eingängige "Lust For Life" im Kasten ist, hat nicht nur Iggy das Gefühl, dass nun der große Popularitätsschub bevorsteht. Doch plötzlich stirbt Elvis Presley und RCA hat anderes zu tun, als das zweite Iggy-Studioalbum innerhalb eines Jahres zu bewerben oder nachzupressen. Es landet auf Platz 28 in den UK-Charts. Die Single "Lust For Life" versandet und "The Passenger" endet als B-Seite, end of story. Laut Paul Trynkas Iggy-Pop-Biografie flüchtet der Sänger frustriert ins Schlosshotel Gerhus (heute Grunewald), um sich unter Kokain-Einfluss emotional vom "Lust For Life"-Cover, sämtlichen Songs, David Bowie und den übrigen beteiligten Musikern zu distanzieren. Hastig werden Livetracks für das vertraglich mit RCA festgehaltene dritte Album zusammen gekratzt, das dementsprechend lieblos ausfällt. "New Values" erscheint 1979 bei einem neuen Label mit anderer Band in Los Angeles, ohne Bowie.
Aus der Bowie-Phase existieren offenbar weder unveröffentlichte Songs, noch spannende Demos oder wenigstens Studiogespräche im Stile der großartigen Beatles-"Anthology"-Alben. Oder man machte sich nicht die Mühe. Immerhin existieren einige Songs aus Tour-Vorbereitungen, aufgenommen 1976 im französischen Château d'Hérouville, die man für solch eine Fan-Veröffentlichung hätte optimieren können. "TV Eye 1977 Live" war ein Live-Zusammenschnitt aus drei Konzerten mit Fade-Outs. Zwei davon, Cleveland und Chicago, ergänzt um das London-Konzert, bilden nun die Bootleg-Sammlern allerdings längst bekannten, so genannten "Live-Raritäten" mit Bowie am Keyboard. Der Cleveland-Auftritt ist leider selbst aus Fanperspektive der einzige, den man sich freiwillig anhören würde.
Chicago ist heillos übersteuert, wird aber von der sumpfigen Hosentaschen-Aufnahme Londons noch getoppt. Das legendäre Stooges-Bootleg "Metallic K.O." ist im Vergleich eine Rick Rubin-Produktion. Cleveland zeigt einen rekonvaleszenten Sänger, der gewillt ist, seine Zukunft anzupacken. Die Brüder Hunt (Drums) und Tony Sales (Bass) sind eine solide Rhythmusgruppe, der schottische Gitarrist Ricky Gardiner und Bowie transferieren die alten Stooges-Heuler in ein etwas straighteres Gewand. Gardiner bleibt weit hinter Ron Ashetons Solo-Wahnsinn zurück, sowieso hörte hier scheinbar jeder auf den heimlichen Chef an den Keyboards. Bowies Space-Sounds stehen "TV Eye" zwar gut zu Gesicht, wirken in "Dirt" aber völlig deplatziert. Sein Spiel verleiht dem Bühnensound immer wieder ein Honky-Tonk-Feeling.
Nach der Boxset-Tour de Force bleibt ein zwiespältiges Gefühl zurück. Niemand missgönnt dem Godfather of Punk das verdiente, sorgenfreie Rentnerdasein dank solcher Re-Releases. Aber es fällt schwer zu glauben, dass hier wirklich alles getan wurde, um zwei historische Veröffentlichungen ultimativ zu ehren. Das Booklet mit tollen Fotos seiner damaligen Freundin Esther Friedman tröstet etwas über den lauwarmen Inhalt hinweg. "The Idiot" und "Lust For Life" erscheinen auch als Doppel-CDs mit einem Live-Konzert, die Cleveland-Show ist "Lust For Life" angehängt. Eine Foto-Retrospektive von Iggys Karriere erschien zuletzt in Form des empfehlenswerten Bildbands "'Til Wrong Feels Right", ebenfalls mit vielen Friedman-Bildern aus Berlin. Vielleicht die bessere Alternative.
3 Kommentare mit 2 Antworten
Das Paket mit dem passenden Titel "Bowie Years" ist wohl eine Ausgeburt des anhaltenden Bowie-Neuveröffentlichungswahns, der gefühlt jede Woche neue Re-Releases hervorbringt. Aufgeblasen für maximalen Profit, würdige Deluxe Editions für "The Idiot" und "Lust for Life" hätten gereicht.
Sorry, Low von Bowie ist nicht in Berlin aufgenommen worden...
@DK2442:
Der Legende nach schon ...? "Low", "'Heroes'" in Berlin, "Lodger" später als Abschluß in Montreux bzw. New York. Oder kursiert noch irgendwo eine andere Geschichte?
Gruß
Skywise
Es wird ja zur Berlin-Triologie gezählt, aber der größte Teil wurde im Château d’Hérouville in (Süd?)Frankreich produziert und ein kleiner Rest in Berlin. Heroes ist das einzige was komplett in Berlin entstanden ist als Bowie in Berlin lebte.
Der Nick "Toxic Twins" ist auch schon vergeben und zwar an Joe Perry/Steven Tyler von Aerosmith.