laut.de-Kritik
Ein Schauermärchen in Schwermetall.
Review von Yan TemminghoffIm Jahr 1696 ist die westliche Welt fest in patriarchalischer Hand, gestützt von einer umfassenden Glaubensform, die das Weibliche schmäht und das Weltliche argwöhnisch betrachtet. Dabei gibt es neben der klerikalen Geheimniskrämerei aufklärerische Tendenzen, die Erklärungen für mutmaßlich übernatürliche Phänomene suchen und meistens auch finden.
Insomnium-Bassist und -Fronter Niilo Sevänen siedelt die Story in dieser turbulenten Zeit an und spinnt um die verurteilte Hexe Lilian eine so phantastische wie blutrünstige Erzählung, die an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt wird. Kurz gesagt erinnert der Plot an "Akte X" in einem mittelalterlichen Setting.
Die Twists und Turns der lyrischen Leitlinie bieten den idealen Hintergrund für die musikalischen Ausschweifungen, die von folkig-verträumt über straight-metallisch bis hin zu opulent-sinfonisch eine breite Palette an musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten offerieren.
Insomnium sind vertraut mit ganzheitlichen und konzeptuellen Formaten der klanglichen Kunst. "Winter's Gate" konzipierte die Formation als einen vierzig-minütigen Track, während "Heart Like A Grave" die Band im larger than life-Format inszenierte - 70 Minuten lang, voller orchestraler Opulenz, Dynamik und Dramatik inklusive.
Die acht Songs von "Anno 1696" übersetzen die Story in ein Lyric-Format. Die Eckpunkte und Highlights der textlichen Folie gewinnen durch die musikalische Ausgestaltung an emotionaler Tiefe. Dennoch ergibt es Sinn, Prosa, Songtext und Musik aufmerksam zu folgen, um vollends in das Schauermärchen und dessen verschiedene Ebenen einzutauchen.
"Starless Paths" strahlt mit seiner funkensprühenden Melodik, die das Saitentriumvirat gebiert, in der schwarzmetallischen Dunkelheit, die insbesondere die Rhythmusgruppe vorantreibt. Die Hook im Zwischenteil von "White Christ", einer Kollaboration mit Rotting Christ-Fronter Sakis Tolis, und die postrockige Ausstaffierung dieses Parts sind sorgsam gesetzten Kontrapunkte zu den grantig-schroffen Riff-Massiven.
"The Whitch Hunter" prägt eine hypnotische Lead-Gitarre als Fluchtpunkt. "The Unrest" ist ein folkiges Kleinod, ein Luftholen vor dem Finale "The Rapids", einem kristallinen Track, der das epische Ende präsentiert und in szenischer Machart gestaltet ist.
Natürlich hat der Finnen-Fünfer seinen Krach-Knigge umfänglich studiert und weiß die Trigger zu bedienen und die Reizpunkte zu setzen. Bei aller handwerklichen Meisterschaft bleibt als Fazit: Wo etwa Amorphis zu sehr auf den Song schielen und zu starken Wert auf den Hitfaktor legen, gelingt es Insomnium, den Zusammenhang im Albumkontext zu wahren und selten in kitschige Gefilde abzudriften. Das ist zugegeben eine subjektive Einschätzung. Dem Sog, den das ästhetische Angebot aus Story, Sound und Songwriting, entwickelt, kann man sich schwer entziehen.
1 Kommentar mit einer Antwort
Für mich ganz klar 5/5! Alleine Godforsaken und Lilian sind die besten Songs in diesem Genre seit geraumer Zeit und die Melodien sind einfach Gänsehaut pur! Das Album landet am Ende des Jahres definitiv in meinen Top 3!
Und ich hatte recht! Nachdem dem gestrigen Konzert und dem baldigen Ende von 2023: Anno 1696 ist mein Top Album in diesem Jahr!