laut.de-Kritik
Spätes Meisterwerk, kurz vor seinem Tod.
Review von Ulf KubankePolynesien 1977: Als Jacques Brel in seinem selbst gewählten Exil, der Marquesas-Insel Hiva Oa, den Entschluss fasste, sein letztes Album "Les Marquises" aufzunehmen, war er bereits vom nahenden Tod gezeichnet. Bösartige Krebsgeschwüre wüteten seit mehr als drei Jahren in seinem ausgezehrten Körper. Der ehemals stimmgewaltige König des Chanson besaß nur noch einen Lungenflügel, und das letzte echte Studioalbum mit eigenen Liedern lag bereits eine volle Dekade zurück ("J'arrive", 1968).
Im milden Südseeklima gaben die Ärzte Brel bei Schonung noch einige Jahre. Doch welkendes Siechtum war nicht Sache dieses stets umtriebigen Charakters. "Lieber noch eine letzte Platte und dann ist mit einem Knall Schluss, als hier zu sitzen und auf den Tod zu warten!" Und dieser allerletzte Paukenschlag hat es auch in sich.
Seine ganz großen Einzelstücke, etwa "Ne Me Quitte Pas", "Le Plat Pays" und der ewige Übersong "Amsterdam" hatten die Welt bereits erobert. Längst war Brel der neben Hercule Poirot wohl bekannteste Belgier überhaupt. Giganten wie Bowie, Sinatra oder Scott Walker schmückten sich mit gecoverten Federn seiner Lieder. Später sogar Nirvana. Doch genau dieses finale Dutzend transportiert eine innere wie äußere Geschlossenheit, die man getrost als echte Krönung von Brels Schaffen begreifen darf. Jede einzelne Sekunde brennt in emotionaler Intensität. Jede einzelne Silbe lässt seine Worte Fleisch werden.
So trommelt "Grand Jacques" einmal noch die alten musikalischen Weggefährten zusammen und ab geht es nach Paris. Zurück in den Schoß jener nur scheinbar zivilisierten Gesellschaft, deren grauer Uniformität er längst entflohen zu sein glaubte. Gemeinsam bündeln sie Brels große Themen Liebe, Tod und sozialkritischen Humanismus in Walzer, Ballade sowie dezent modernisiertem musikalischen Mantel. Dazu mehr als nur ein Schuss Erotik in drastischer Sprache voller Titten, Ärsche und sogar seinem Schwanz ("Knokke-Le-Zoute Tango").
Sein noch immer bemerkenswert voluminöser Bariton stilisiert mehr denn je die Tracks zu einem finalen Aufbäumen des Individuums gegen den Konformismus seiner Umgebung und zelebriert die berechtigte Verweigerung, sich von dieser deformieren zu lassen. So bekommen in "Les F" alle bigotten Opportunisten und Spießer seiner flämischen Heimat noch einmal den verbalen Jauchekübel übergestülpt. "Nazis in den Kriegen, Katholiken dazwischen / So schwanken sie fortwährend zwischen Knarre und Messbuch hin und her ... ihr könnt mich mal am Arsch lecken."
Der Song selbst ist ein für Brel außergewöhnliches Stück. Zum ersten und einzigen Mal liebäugelt er mit Funk samt Wahwah, Bläsern und einem leicht jazzigen Hauch. Im temperamentvollen Walzer "Vieillir" setzt er sich selbstironisch und sarkastisch mit der eigenen Vergänglichkeit auseinander. Funken sprühend wie eh und je stellt er zwischen extravaganten Stereospielereien heraus, wie ihm das Altern erspart bleibt, noch beim Spucken des letzten Zahnes als 100-Jähriger "Amsterdam" singen zu müssen, weil er am Ende einer blonden Zigarette dahinscheiden werde. Dabei gelingt ihm das Kunststück, so zweideutig zu bleiben, dass der Hörer nicht weiß, ob er diesen Umstand beklagt oder beklatscht.
Sogar noch besser ist der passionierte Fliegerpilot in den musikalisch ruhigen Momenten, die das stets präsente anmimalische Element Brels unter Verschluss halten und ganz den verwundeten Romantiker offenbaren. Neben dem Titelstück ist "La Ville S'Endormait" eine seiner melodisch stärksten Balladen. Das wunderschön nocturnale Thema schmeichelt sich mit samtigen Streichern (linker Kanal) und tief melancholischen Pianotupfern (rechter Kanal) ins Ohr und hält die Kitschgrenze lässig auf Abstand. Genau wie die Stadt schläft auch ihr nächtlicher Besucher in den Armen einer nackten Femme Fatale ein. Ob er je wieder erwacht, bleibt ungewiss.
Nicht weniger anrührend gelingt Brel die traumwandlerische Hommage an seinen besten, bereits verstorbenen Freund "Jojo". Hier nutzt er seit langem endlich wieder die Akustikgitarre, deren Klänge er lange Zeit verschmähte. Das scheinbar simple aber sehr effektive Zupfarrangement hüllt die Worte ein wie ein zart gesponnener Kokon. "Ich kleide mich in unsre Träume / Waise bin ich ganz und gar / Aber glücklich jetzt zu wissen, dass ich zu dir komme."
Höhepunkt des Albums ist trotz aller Superlative "Orly". Eine dramatische Hymne an die Liebenden dieser Welt, die doch meist Trennung, Schmerz und Einsamkeit unterworfen bleiben, die das Schicksal für sie bereit hält. Spartanische Streicher begleiten Brels Stimme als Rhythmusgeber. Gelegentlich erheben sich beide samt einem verweht hallenden Bläserecho zur kurzen Druckwelle, wie ein akustisches Ausrufezeichen. Jedes einzelne Wort dieser Momentaufnahme eines scheidenden Paares ist pure Poesie und einen Kniefall wert. Alles Bildhafte der grandios gezeichneten Szenerie kulminiert in der ebenso schlichten wie wahren Erkenntnis "Das Leben gibt freiwillig nie etwas her!"
Das Publikum hingegen beschert dem Album aus freien Stücken den verdienten enormen Erfolg. Schon vor dem Erscheinen hat es über eine Million Vorbestellungen. Danach wanderten allein in den ersten Tagen knapp 700.000 Exemplare über den Ladentisch. Der begeisterte Segler befand sich zu diesem Zeitpunkt schon wieder auf dem Rückweg zu seiner geliebten Insel. "Es gibt zwei Sorten von Leuten: die Lebenden ... und ich bin auf See!"
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
3 Kommentare
Noch nie gehört, scheint ja aber eine riesige Bildungslücke zu sein! Dann danke ich dafür, dass ich die jetzt füllen kann. =)
Ich werde sie gleiche heute abend wieder rausholen ... anhören ... und diesen Text dazulegen.
Wunderschön geschrieben. Vielen Dank
Drei Sterne Leserwertung, echt? Ist der so umstritten?
Oder interessiert sich für den bloß kein Schwein (weshalb keiner wertet)?
Werd' da auf jeden Fall mal reinschnuppern - in der Hoffnung, zumindest ein paar Sachen auf den Trümmern meines Siebtklässler-Französischs übersetzt zu kriegen.