laut.de-Kritik

Verschwende niemals den Schmerz.

Review von

Am 19. März 2020 postete Susie Tweedy ein Video auf ihrem Instagram-Kanal, das ihren Mann Jeff in der Badewanne zeigte, während er geduldig ihre Fragen beantwortete. Es war zum Glück kein Beitrag zu einer verrückten Fetish-Serie, sondern der Auftakt zu einer Reihe täglicher Posts, in denen die Familie auf dem Sofa saß und Lieder sang. Schaut her, so die Botschaft, die Lage ist wegen Corona scheiße. Lasst uns das Beste daraus machen. Mit Liebe und Geborgenheit werden wir auch das überstehen.

"Love Is The King" lautet denn auch der Titel des Albums, das Tweedy mit seinen Söhnen Spencer und Sammy im April 2020 aufgenommen hat. Das Leben ist unfair, aber die Liebe siegt, so die zentrale Aussage des Liedes - und der gesamten Platte.

Damit wäre im Prinzip schon alles gesagt. Dennoch ist es ein Genuss, Tweedy beim Musizieren und Singen zuzuhören. Seine Kinder unterstützen ihn zwar tatkräftig, dennoch kann man sich gut vorstellen, dass sie geduldig herumsaßen, bis Papa seine Soli und gelegentlichen Bassläufe über die geschrammelten Rhythmusspuren gelegt hatte. Schön, wenn man ein gut ausgerüstetes Studio sein Eigen nennen darf. Jeden Tag nahmen sie ein Stück auf, bis sie genügend beisammen hatten.

Der Indie-Rock-Touch ist nach wie vor da, etwa in "Bad Day Lately", doch bildet er eher die Ausnahme. Die Tweedys klingen diesmal (noch) countryger als sonst. "Opaline" könnte von John Prine stammen, "Natural Disaster" vom Bob Dylan der 1970er Jahren, mit einer Prise Johnny Cash. Reinen Country-Folk bieten "Even I Can See" und "Guess Again", in denen Tweedy seiner Frau Susie seine ewige Liebe erklärt. Könnte schon fast schnulzig wirken, ist angesichts seinen Depressionen und ihrer zum Glück überstandenen Krebserkrankung (die er mit Spencer 2014 auf "Sukierae" verarbeitete) aber eher rührend.

"Never let pain go to waste", ("verschwende niemals den Schmerz"), erklärt Tweedy der walisischen Sängerin Cate Le Bon, die ein kurzes Essay über das Album geschrieben hat. Aus dem Schmerz, so die Botschaft, entsteht Kunst. Und genau diese Kunst ist es, die zur Heilung führt. Oder zumindest zu einer Linderung.

Ein Gedanke, den Big Thief-Frontfrau Adrianne Lenker zeitgleich auf einem Album mit demselben Ansatz verarbeitet hat. Nicht wie Tweedy in einer Großstadt und unter vergleichsweise bequemen Umständen, sondern in einer abgelegenen, spartanisch ausgestatteten Waldhütte.

Das wäre für Tweedy vermutlich nichts gewesen, denn die Entspannung in der Badewanne machte er zum abendlichen Ritual. Wie auch die Instagram-Konzerte. Seit dem Sommer sind sie seltener geworden, finden gelegentlich aber immer noch statt. Etwa zur Veröffentlichung dieses Albums, das er mit seinen Söhnen live aufgeführt hat. Intime Aufritte, für die Susie Tweedy sogar eine eigene Webseite freigeschaltet hat: thetweedyshow.com.

Das Internet ist übrigens der einzige Weg, um das Album in den ersten Monaten nach der Veröffentlichung zu hören. Wer das schöne Cover, ein weniger bekanntes Werk des Kriegsfotografen Robert Capa, in den Händen halten will, muss sich bis Anfang nächstes Jahres gedulden, denn Vinyl und CD sollen erst am 15. Januar 2021 erscheinen.

Trackliste

  1. 1. Love Is The King
  2. 2. Opaline
  3. 3. A Robin Or A Wren
  4. 4. Gwendolyn
  5. 5. Bad Day Lately
  6. 6. Even I Can See
  7. 7. Natural Disaster
  8. 8. Save It For Me
  9. 9. Guess Again
  10. 10. Troubled
  11. 11. Half-Asleep

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Wilco

Wilco gehören wie Radiohead oder Giant Sand zu jenen beneidenswerten Bands, deren Werke schon vor ihrer Veröffentlichung zu Meisterwerken erkoren werden.

Noch keine Kommentare