laut.de-Kritik

Genre-Hybrid mit wilden Melodien und Assoziationen.

Review von

Was mit flockigen Funkpop-Nummern 2019 einschlug und dann ins Mini-Album "Golden Hour" mündete, hat sich drastisch weiter entwickelt. Das Jungs-Quartett Jeremias legt ein überwiegend stilles und nachdenkliches Longplay-Debüt vor. So cheesy und von Weltschmerz gezeichnet, dass es sogar Dagobert-Fans zusagen dürfte. Der Titel "Von Wind Und Anonymität" legt nahe, dass Folk und Philosophie folgen. Anteilig stimmt das. Ein bisschen.

Beatgetriebene Tunes wie "Clown Zum Freak", der Disco-Style in "Verrückt" und leichtfüßig pulsierender Synthpop in "Da Für Dich" durchbrechen das Konzept allerdings genauso wie der rockige Track "Unique" mit französischem Chanson-Flair. Diese Platte ist schwer als Ganzes zu greifen, wechselt unruhig zwischen Stimmungen und scheint doch unterschwellig eine Konzept-Botschaft vermitteln zu wollen. Anspieltipps: "Da Für Dich" mit Kammermusik-Intensität, anschwellendem Powerpop und Gitarren-Explosion, die elegische Ballade "Goldmund" mit Falsett-Vocals, und "Julia" als Soulpop im Stile von Teesy.

Bei aller Verschiedenartigkeit der Songs eint sie eine kontraintuitive Melodieführung. Die wenigsten Harmonien würde man im gängigen Sinn als harmonisch bezeichnen. Sie sind zwar auch nicht dissonant, aber fremdartig. Einer schnellen Eingängigkeit verweigern sie sich oder verlaufen ziemlich monoton. Eindeutig zeigen die kunstvollen Arrangements und ausgefeilten Gesänge aber: Das soll so sein - hier klingt kein Ton zufällig.

Zufälle spielen um die Musik herum trotzdem eine Rolle. Viel für den Erfolg lief über Mund-zu-Mund-Propaganda statt Marketing-Maschinerie. Frontmann Jeremias Heimbach gibt in einem Interview mit dpa an, das Album reflektiere den eigenen Weg als Gruppe in den letzten Jahren - und der lässt sich kaum als geplant bewerten. Damit sucht dieses Album auch kein bestimmtes Genre-Publikum, sondern richtet sich vor allem an offene Ohren, die frische Gestaltungsmittel und Konventionsbrüche ersehnen.

"Von Wind Und Anonymität" wagt deutschsprachige Hybride aus Rock, Pop, Folk und Funk, ohne dabei in die Retro-Falle zu rutschen, auch ohne englischen Bands nachzueifern, und ohne die harte und trockene deutsche Sprache geschmeidiger zu schleifen. Musikalisch wurzelt das ein oder andere Element wie z.B. der Vocoder des Openers sicher in den 70ern. Aber es geht nicht um Retro um des Modischen oder Vintage-Effekts willen, es geht um Emotionen und Stimmungen. Die Platte ist somit was für sensible Gemüter. Für Menschen, die hinterfragen, auch sich selbst; denen man nichts vormachen kann, die vom Leben auch Überforderung, Nicht-Dazugehören, Misserfolg kennen. Die das Authentische jedem Fake vorziehen.

Und das ist von der Einstellung her das Schöne an der Platte. Auch wenn sie es nur in wenigen Tracks wie "Stille" beim Zuhören einfach macht und ansonsten Toleranz einfordert: Für seltsame Akkordsprünge, ewig lang gezogene Gesangs-Silben und Stream-of-Consciousness-Texte. Obwohl die meisten Songs sehr an Herz und Seele appellieren, verlangen die Lyrics enorme Konzentration beim Zuhören. Nicht alles versteht man in den Abmischungen einwandfrei, die Assoziationen sind wild, und ohne bewusstes Hinhören verliert man rasch den Faden.

Mancher Text hat desillusionierende Zeilen. Aber der Versuchung einer cremigen Sprache zulasten von Logik und Geschmack widerstehen Jeremias. Die Gedanken, die sie haben, bügeln sie nicht fürs Pop-Gewand glatt. Immerhin: Wird es zu Loser-mäßig, fängt der nächste Track das Stimmungstief auf und biegt die Mood Management-Kurve wieder nach oben. Von der Treibsand-Tristesse eines Enno Bunger sind die Hannoveraner damit meilenweit entfernt. Wenn sie sagen, was sie sagen wollen, sind ihnen Versmaß und Reim-Potenziale egal.

Beispiel: "Alle bauen immer höher / ich hab Angst, ich fall raus. / Denn auf einmal muss man irgend etwas schützen / nur leider hass ich jede mögliche Verpflichtung. / Ich komme gar nicht oder komme zu spät. / Sie sind abgefuckt und fragen mich nicht mehr, wie's mir geht. / Das 'Vielleicht' in mei'm Kopf, das ist viel zu groß. / Bitte lass mich raus, ich krieg Atemnot." - Sowas ist um ein Vielfaches freier als jeder Freestyle-Rap. Anders als Songs sich sonst der Gedichtform verpflichten, lesen sich die Texte hier eher wie Regie-Anweisungen, um Film-Charaktere zu verkörpern. Allerdings ist die Abstraktion hoch, Handlung oder Szene sind kaum erkennbar. Trotzdem tragen Jeremias keinen Non-Sense vor, sondern reale Unsicherheiten, Existenzängste, Selbstzweifel - und in diesem einen Punkt webt das Album dann doch einen roten Faden.

Da die Lyrics offen genug dafür sind, dass man sich selbst ein Szenario dazu denken oder in bestimmten Aspekten wiederfinden kann, entstehen solche Effekte wie bei Julia, einer Besucherin des Reeperbahn-Festivals. Viele dort fieberten dem CD-Release-Gig der Band in der Elbphilharmonie entgegen. Man stelle sich vor: Eine relative Newcomer-Band mit Klavier, Gitarre, Bass und Schlagzeug füllt das deutsche Symphonik-Ambiente und Symbol moderner Konzert-Architektur mit Blick auf den Fracht-Hafen, ergänzt um einen Keyboarder. Julia sagt, bei der Nummer "Julia" denke sie immer, der Titel sei für sie geschrieben worden, und Jeremias seien dadurch ihre meistgehörte Band geworden.

Sowas kann man halt nicht kalkulieren, und wer die Band dort gesehen hat, bei einem Auftritt, für den es sehr viel Mut braucht, wird die Lieder subjektiv anders ins Herz schließen, als wer sie sich auf YouTube anhört. Denn hier geht es um diesen Effekt, dass die Musiker persönliche Peinlichkeiten teilen.

Interessanter Weise hat der 37-jährige Tim Tautorat, tätig für Annett Louisan, die Platte produziert. Was gar nicht ins Bild passt. Der Geiger und Toningenieur durfte dieses Mal keine Streicher-Schichten auftragen, sondern lässt auch schlichten Stellen ihren Lauf. Wenn Jeremias Heimbach in "Hier" zur Akustikgitarre bekennt: "Ich hab aufgehört zu rauchen / und heute wieder angefangen. / Das ist egal, wie ich sein will. / Stirbt sowieso irgendwann. / Scheint, als wären alle nur glei-eich. / Gar nichts, was uns annähernd reicht. / Wir suchen überall und finden aber nichts. / Mein Platz ist hier, wo das auch immer grade ist." Dann reicht die Akustikgitarre.

Trackliste

  1. 1. Der Schmerz Ist Vorbei
  2. 2. Clown Zum Freak
  3. 3. Verrückt
  4. 4. Wir Haben Den Winter Überlebt
  5. 5. Egoist
  6. 6. Da Für Dich
  7. 7. 97
  8. 8. Hier
  9. 9. Unique
  10. 10. Julia
  11. 11. Mit Dir Kann Ich Alleine Sein
  12. 12. Goldmund
  13. 13. Es Hört Nicht Auf
  14. 14. Pasajero
  15. 15. Stille

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