laut.de-Kritik

Gitterstäbe-Romantik in unerreichter Atmosphäre.

Review von

Gefängnisse werden in der Kunst gerne romantisiert. Recht und Unrecht kommen hier auf engstem Raum zusammen. Die verwegenen Helden des Innenhofes, die Ausbrecher aus unrechtmäßiger Verurteilung, die Gegenentwürfe zur sozialen Gesellschaft. Sie üben auch in der Musikgeschichte eine ständige Faszination und Anziehungskraft auf Musikschaffende aus, die eigentlich ihre Kunst dazu verwenden, dem zu entfliehen, was wir Alltag nennen. Und niemand verstand es besser, diese Welten zu vereinen als Johnny Cash.

Im Grunde genommen baut Cashs gesamte Karriere auf dem Image des Bad Boys auf, des wilden Hundes, der aus eigener Erfahrung sprach, wenn er seine Countrysongs vortrug. Dass nicht jedes Wort ein wahres war und dabei auch manchmal viel Showbusiness steckte, entdeckt man erst viel später. Traut man seinen Ohren bei "At Folsom Prison", Cashs Auftritt vor 2.000 Häftlingen im Gefängnis in Folsom, California, so steht hier ein Typ auf der Bühne, der nicht lügt, wenn er singt "I shot a man in Reno / just to watch him die".

Wir schreiben den 13. Januar 1968, 9:40 Uhr. Im Speisesaal Nr. 2 im Folsom-Gefängnis versammeln sich die von einigen Wachen in Schach gehaltenen Insassen. Die Statler Brothers und Carl Perkins spielen gerade ihre Mini-Sets als Aufwärmprogramm, bevor Johnny Cash mitsamt seiner Backingband The Tennessee Three die Bühne betritt. Es folgt der legendäre Satz "Hello, I'm Johny Cash", und das Gefängnis explodiert mit Jubelschreien. Selbst Lemmy braucht mehr Wörter. Von Sekunde eins dieses Konzertes ist klar, wer hier der Chef ist.

Es war ein frisch von seiner Drogensucht befreiter Cash, der seit der Veröffentlichung seines "Folsom Prison Blues" 1955 zahlreiche Anfragen und Briefe von Häftlingen bekam, die nur einen Wunsch beinhalteten: ein Auftritt in ihrem Gefängnis. Tatsächlich spielte er schon in mehreren Besserungsanstalten und spürte dort auch schon die besondere Atmosphäre und die Reaktion des exklusiven Publikums, das sich wirklich von regulären Konzerten unterschied. Als Cash dann mit Bob Johnston einen neuen Ansprechpartner bei Columbia Records vorfand, hatte er seinen idealen Partner für dieses Projekt gefunden - das Live-Album im Folsom Prison konnte beginnen.

Das Ergebnis ist ein wahrlich grandioses Zeitdokument eines der atmosphärischsten Konzerte aller Zeiten. Johnny Cash schneiderte die Setlist messerscharf auf die Gelegenheit zu, spielte Songs über Häftlinge, Hinrichtungen, Abschiede, Todesfälle, Aussichtslosigkeit und natürlich Liebe. Bei aller Gitterstäbe-Romantik stammten von den 19 gespielten Songs schließlich nur sechs aus seiner eigenen Feder, was der Stimmung allerdings überhaupt keinen Abbruch tat. Cash wusste, für wen er spielte.

Seine größte Gabe war es, sich in das Leben der Häftlinge hineinzufühlen. Sei es bei der Songauswahl oder den meist mit kernigem Humor verbundenen Ansagen zwischen den Stücken. Das Publikum akzeptierte ihn als einen Gleichgesinnten, obwohl Cashs Bekanntschaften mit dem Gesetz kaum für längere Zellenaufenthalte ausreichten. Aber das ist egal, er schnitzt durch Songs wie "Cocaine Blues", "Busted" oder "I Got Stripes" an einer überlebensgroßen Bühnenpersona, mit der sich die Häftlinge hörbar identifizieren konnten (siehe den Szenenapplaus bei besonders ruchlosen Textpassagen).

Cash inspirierte diese Reaktion zu einem fanatischen und fantastischen Auftritt eines perfekten Showmans, der Emotionen sehr befreit in seine Stimmbänder fließen ließ. Bei ruhigen Stücken vibriert sein sonores Organ sanft, im "Cocaine Blues" überschlägt er sich mit vollem Karacho. Da die Instrumentierung größtenteils sparsam und repetitiv sein musste, transportiert die Stimme hier ungemein viel an Bedeutung und Stimmung in den Songs. Als Trademark zieht sich eine ehrliche Traurigkeit durch seine Stimme, die Songs wie "Green, Green Gras Of Home" in Mark und Bein fahren lassen.

Aber er wäre nicht Johnny Cash, wenn er nicht sprichwörtlichen Galgenhumor erwirken würde. Bei "Dark As A Dungeon" bringt ihn etwas zum Lachen, ausgerechnet bei einem der bittersten Songs des Sets. Mit einem Schmunzeln mahnt er "No laughing in this song please, it's been recorded", kann aber selbst die Stimme nicht mehr wirklich gerade halten. Solch kleine Patzer, sein Mut zu Fehlern, sorgen für Lebendigkeit. Etwas, dass heutige Releases schmerzlich vermissen lassen.

Ohne es wirklich nötig zu haben, sammelt er noch mehr Sympathiepunkte. "This show is been recorded for an album release, so you can't say hell or shit or anything like that, haha", lässt er sein Gefängnis-Publikum wissen. Später verlangt er nach einem Glass Wasser und beschwert sich, zur großen Freude der Insassen, über die Wasserqualität. Cashs Dialog mit den Häftlingen ist eine Begegnung auf Augenhöhe, das allein zollt schon von dem gewaltigen gegenseitigen Respekt, den beide Seiten einander zugestehen.

Natürlich geht es auch etwas heiterer. "Dirty Old Egg-Sucking Dog" und "Flushed From The Bathroom Of Your Heart" reihen die Pointen fast wie Comedysongs aneinander, die Stimmung kippt von glücklich-andächtig hin zu mitreißend-losgelöst. Dafür sorgt auch zum Teil der Auftritt von June Carter, die mit ihrem breiten Südstaaten-Akzent die Herzen der Horde verurteilter Gesetzesbrecher zum Schmelzen brachte und in einer rasanten Version von "Jackson" wunderbar mit Cash harmonierte.

Nach den vielen Auf und Abs erklärt Johnny zum Schluss auch noch, dass der Verfasser des nächsten Songs aus dem Gefängnis stamme. Glen Sherley, verurteilt wegen bewaffneten Raubüberfalls, schrieb den Song "Greystone Chapel". Eine Aufnahme davon gelangte über den Gefängnispastor in die Hände von Cash, der den Song prompt am Vorabend mit der Band einprobte. "I hope we do your song justice" sprach er in Shirleys Richtung, der sein Glück kaum fassen konnte.

Die Zukunft sollte zeigen, dass Cash sich für Shirley verbürgte, ihn mit auf Tour nahm und schließlich auch sein Begräbnis bezahlte. Das klingt alles viel zu sehr nach Hollywood, sagt ihr? Kein Wunder, dass sich das Johnny Cash-Biopic "Walk The Line" rund um dieses epische Konzerterlebnis in Folsom drehte.

Als ob das Ganze nicht mehr zu toppen wäre, beraumte man zur Absicherung für 12:40 Uhr noch ein zweites Set an, das Cash mit ähnlichem Grandeur bewältigte. Bis heute sahen viele verschiedene Versionen des Albums das Tageslicht, manche nur mit dem ersten Konzert, manche mit einer Mischung aus beiden, sogar eine mit beiden ungeschnittenen Sets inklusive den Vorgruppen. Die gängige 19-Track-Version speist sich aus dem ersten, besonders angetriebenen Auftritt.

Das Live-Album stellt eines von vielen Comebacks in der langen und volatilen Karriere des Johnny Cash dar. Sein Ruf als mitreißender Performer war durch "At Folsom Prison" allerdings gefestigt, sein Bad Boy-Image durch die noch folgenden Gefängnisauftritte (u.a. "San Quentin") stets aufrecht. Die beeindruckende Verbindung zum Publikum machen diesen außergewöhnlichen und atmosphärischen Moment, den "At Folsom Prison" festhält, zu einem definierenden Werk für Johnny Cash, was dieser sicher selbst wusste. Oder wie er nach einem bewusst ausgestoßenen Fluch auf der Platte verschmitzt fragt: "How does that grab you, Bob?"

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Folsom Prison Blues
  2. 2. Busted
  3. 3. Dark As The Dungeon
  4. 4. I Still Miss Someone
  5. 5. Cocaine Blues
  6. 6. 25 Minutes To Go
  7. 7. Orange Blossom Spezial
  8. 8. The Long Black Veil
  9. 9. Send A Picture Of Mother
  10. 10. The Wall
  11. 11. Dirty Old Egg-Suckin Dog
  12. 12. Flushed From The Bathroom Of Your Heart
  13. 13. Joe Bean
  14. 14. Jackson
  15. 15. Give My Love to Rose
  16. 16. I Got Stripes
  17. 17. The Legend Of John Henry's Hammer
  18. 18. Green,Green Grass Of Home
  19. 19. Greystone Chapel

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56 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 12 Jahren

    Ich wuesste mal gerne, was von Country-Saengern erwartet wird. Das ist kein art rock. Das muss nichts veraendern oder erneuern oder revolutionieren.

  • Vor 12 Jahren

    Ich persönlich würde Jerry Lee Lewis, Chuck Berry und Aretha Franklin allesamt für sehr viel wichtiger als Johnny Cash halten, aber einräumen muss ich auch, daß ich sie allesamt als musikalisch sehr viel hochwertiger betrachte. Jerry Lee Lewis war der erste Bad Boy und eigentliche King of Rock'n'Roll, Chuck Berry hat das Gitarrespiel des Rock'n'Roll für immer verändert und nebenbei ein paar bedeutende Standards für das Genre geschrieben und ohne Aretha Franklin wäre Soul vermutlich nur eine Randerscheinung geblieben. Alle drei Künstler werden noch regelmäßig als Inspirationsquelle für andere Musiker angegeben, woran sich schon gut ablesen lässt, wie bedeutend sie waren (oder noch sind). Cash wird da eher selten genannt.
    Nun ja, wir landen zwangsläufig wieder beim Geschmack.

  • Vor 12 Jahren

    Der wahre Meilenstein von Cash ist in meinen Augen ja das Childrens Album. :o