laut.de-Kritik
Es kann nicht für immer Nacht sein.
Review von Yannik GölzAm 10. November 2007 starb Kanye Wests Mutter Donda an den Folgen einer Schönheitsoperation. Dieser Vorfall markiert den Beginn einer mentalen Abwärtsspirale, die bis heute anhält – Kanyes ganze Persona und quasi alle seine Alben spiegeln Kreisbewegungen aus Umgang mit und Ausreißen vor dem Ereignis.
Der maximalistische Künstler auf "Dark Fantasy", der aggressive Hedonist auf "Yeezus", der Mode-Dandy auf "Pablo", der Familienvater auf "Ye" oder der verzweifelte Christ auf "Jesus Is King": Alle seine Alben seit Dondas Tod lassen sich als Neuentwürfe seines Selbstbilds lesen. Als neue Ideen eines Kanye, der mit den Dingen umgehen kann.
In "Donda" hallen sie alle wieder. Dieser überlange Behemoth von einem Kanye-Album kulminiert all seine gescheiterten Fluchten in eineinhalb Stunden industriellem Gospel. In einem Wechselspiel aus christlicher Manie und Superstar-Depression holt Kanye zu einer chaotischen Extravaganza aus, die mit seinen besten Alben mithalten kann.
Das Thema der Schuld ist "Dondas" gemeinsamer Nenner. Im letzten Drittel des Albums entpuppt sich die gescheiterte Ehe mit Kim Kardashian als konkreter Trigger, aber wie es oft mit der Schuld ist, beschwört sie in Menschen eine Kettenreaktion hervor. Kanyes Kettenreaktion pendelt im Laufe des Albums immer wieder zu seiner omnipräsenten Mutter zurück: Er hat sie in den Zirkus der prominenten Welt eingeführt. Er glaubt, ihren Tod verschuldet zu haben, und jeder Versuch, Dinge zu vergeben, hat nur neue Katastrophen ausgelöst. Kanyes Skandal-Kaskade der letzten Jahre ist ein Ausdruck davon, seine Scheidung und seine zahlreichen Zusammenbrüche nur die letzte Konsequenz.
"Let's be honest, we all liars", beschwört er dann auf "Jail". Es könnte keinen besseren Opener geben. Der Song klingt groß, erschütternd – und zwischen dem aufbrausenden Gitarrenton überraschend leer. Mäandernd beharrt er auf den wenigen Lyrics des Refrains, die das Album an seinem niedrigsten Punkt beginnen. Der Song ist Selbstauslieferung, Schuldeingeständnis und ein Flehen nach Solidarität. Natürlich macht Kanye diese Aufrichtigkeit zunichte, wenn er mit Marilyn Manson jemand auf dem Remix gastieren lässt, der nie die Absicht hatte, sich mut seiner eigenen Schuld zu konfrontieren, und jetzt gerade angesichts von Vergewaltigungs-Vorwürfen recht unbekümmert ein völliges Monster zu sein scheint. Wahrscheinlich gesteht man Kanye zu viel Aufrichtigkeit zu, das nicht als Promo-Stunt zu lesen, aber es spricht Bände über sein Selbstbild, wenn sein Flehen nach Solidarität so weit geht, sich mit einem Menschen wie Manson im selben Boot zu wähnen. "Jail" ist eine zelebrierte Bankrotterklärung an die eigene Moral, von der aus er beginnt, sich im Laufe des Albums neu zusammenzusetzen.
Aber wie wir Kanye kennen, ist er eben kein organisierter Mensch – und auch diese Neuerrichtung seiner selbst endet wie all seine jüngsten Unterfangen in einem wunderschönen Chaos. "Donda" funktioniert dahingehend nicht als Einheit, sondern als Geflecht von Schüben. In unstetigen Intervallen flackern alle Erklärungsversuche wieder auf, die Kanye bisher für seinen ambivalenten Charakter unternommen hat. "Hurricane" und "Jonah" suchen Unterschlupf in der Idee der christlichen Vergebung und warmen Gospel-Elementen, die Refrains von The Weeknd und Vory bleiben nachhaltig im Ohr und geben kurze Momente der Ruhe. Songs wie "Ok Ok" oder "Junya" machen doch wieder klar, dass Kanye weder plant noch praktiziert, den weltlichen Bullshit hinter sich zu lassen. Mit Playboi Carti, Lil Yachty und Rooga wälzt er sich wieder in Materialismus, modernen Trap-Bangern und der eigenen Promi-Rolle.
Frei lässt die erste Hälfte sich in den Impulsen seiner Ideen und Kollaborateure treiben. Die kommen natürlich für ein Kanye-Album wieder in Scharen. Das liegt nicht zuletzt an Kanyes bis heute ungetrübter Fähigkeit als Kurator, der jedes Element seiner Songs atmen lassen kann. Der jede Bassline, jedes Sample und jede Hook großartig in Szene setzt. Und vor allem: Der aus jedem seiner Kollaborateure das Beste herausholt. Wer mit Kanye arbeitet, der gibt 100 Prozent. Fivio Foreign, Baby Keem, Don Toliver und DaBaby liefern Parts ab, die gut und gerne die besten ihrer Karriere sein können, aber auch Jay-Z, Jay Electronica, Playboi Carti und Griselda spielen in Höchstform auf.
Es mag ein bisschen wie ein Flickenteppich anmuten, aber diese Technik, Musik zu machen, bleibt Kanyes Ethos nur treu, und die Ergebnisse sprechen für sich, passiert doch auf jedem Song so viel, dass man sich gar nicht langweilen kann. Selbst Leute wie Lil Durk oder Lil Baby, die sich für einen halblebigen Gast-Verse sonst nicht zu schade sind, sind hier spürbar mit Herz und Seele dabei, gerade wenn Durk auf "Jonah" intensiv seine eigene Geschichte mit Tod und Verlust nacherzählt. Auf "Donda" lädt Kanye zur Trauerfeier und ist doch das Leben der Party.
"Don't let the lifestyle drag you down", kommentiert er das im Refrain des überragenden "Believe What I Say", auf dem eine unwiderstehliche Bassline und ein Lauryn Hill-Sample den musikalisch nostalgischsten Moment des Albums produzieren. Die Line klingt, als versuche er einmal mehr, die eigenen Widersprüche auszuhalten. Die Widersprüche, die sich auch im musikalischen Sounddesign des Albums ausdrücken: Die Chöre, die Orgeln und die andächtigen Momente haben immer noch den Jesus-Touch von "Jesus Is King", aber "Donda" unterwandert über die volle Laufzeit eine maschinelle Schwere. Die marodierenden 808s, die harschen Vocal-Samples, die endzeitlichen Synthesizer klingen nach "Yeezus". Mehr noch als dessen Arroganz-Arie klingen viele Momente hier aber nach Höllenfeuer, nach Endzeit und nach Resignation. Immer wieder stoßen diese ästhetischen Pole zusammen und verdeutlichen die künstlerische Zerrissenheit des Albums.
"24" markiert jedoch einen Wendepunkt, an dem das Chaos langsam festere Formen annimmt. Was bis dahin ein Zwillingsalbum zur brillanten Flatterhaftigkeit von "The Life Of Pablo" war, beginnt, in einer unglaublichen Serie von Songs eine klare Stoßrichtung zu entwickeln. Der psychedelische Psalm "Moon" von Don Toliver und Kid Cudi leitet eine überirdische Atmosphäre ein, die auf "Heaven And Hell" ein opulentes 20th Century Steel Band-Sample mit einem von Kanyes hungrigsten Verses ausweitet. "No more problems, no more argue / No more askin', 'Who really arе you?'", rappt er, als würde er es meinen. "Dark Fantasy"-Vibes breiten sich auf "Keep My Spirit Alive" aus, wenn Westside Gunn und Conway The Machine an die Stellen von Pusha und Cyhi treten.
"Jesus Lord" setzt ein weiteres Highlight auf dem Album, auf dem Kanye einen der ausschweifendsten und zerbrechlichsten Parts seiner Karriere abliefert. Noch mehr als vorher macht er transparent, was seine Spiralen auslöst und wie zerrüttet sein seelischer Zustand gerade ist. "And if I talk to Christ, can I bring my mother back to life? / And if I die tonight, will I see her in the afterlife?", kulminiert eine schonungslose Nacherzählung seiner Familiengeschichte, die er mit dem textlichen Tiefschlag "Mama, you was the life of the party / I swear you brought life to the party / When you lost your life, it took the life out the party" eingeleitet hat. Parallel dazu lauert immer die Gegenerzählung, in der implizit seine eigene Familie unter seiner eigenen Schuld zerbricht. Es wird klar, dass Kanye auch in den unbändigsten Episoden von Manie und Depression reflektierter ist, als man ihm es zutraut. "Tell me if you know someone that needs Jesus", echot seine Line durch den Song – und es ist klar, auf wen sie schielt.
Das solide, aber unwesentliche Chris Brown-Feature "New Again", das sich wie ein zweites "Lowlights" anlässt, und der schon genug geschmähte Pop Smoke-Interlude "Tell The Vision" sorgen für die eine wesentliche Länge der Platte, bevor die finalen drei Songs noch einmal zur richtigen Aszension ansetzen. "Pure Souls" und "Lord I Need You" sind die explizite Auseinandersetzung mit seiner Ex-Frau: "Tryna do the right thing with the freedom that you gave me / Your gun off safety / Speak first, don't break me / Harsh words, you're angry", so fängt er eine Szene ein, erzählerischer als auf seinem letzten Alben, auch hier bereit, viel Uneindeutigkeit hinzunehmen. Es sind nicht die Worte, die man von einem marodierenden Egomanen zu seiner gescheiterten Ehe erwartet.
Alle Ambivalenzen gipfeln im letzten Höhepunkt der Platte, "Come To Life". Das massiv arrangierte Piano-Outro ist einer der musikalisch beeindruckendsten Griffe in Kanyes gesamter Diskographie. "Don't you wish the night would go numb? / I've been feelin' low for so long / I ain't had a high in so long / I been in the dark for so long" ist ein bitteres Fazit für einen großen Versuch, Dinge abzuschließen. Aber die Ehe ist nicht gerettet, die Mutter nicht zurückgebracht, die Erlösung nicht sichergestellt. Kanye endet da, wo er angefangen hat - wie wir alle wussten, wie es laufen würde. Aber trotzdem ist da eine Bittersüße, wenn er das Bild spiegelt, mit dem seine Mutter am Anfang des Albums auf "Praise God" zu hören war: "It cannot always be night." "No Child Left Behind" fühlt sich wie eine Erweiterung dieser abschließenden Melancholie an, zu der die Credits rollen. Im Sich-Abfinden mit der Nacht kommt die Erleichterung.
Am Ende steht und fällt "Donda" ein wenig damit, wie sehr man sich auf die Figur, den Menschen und das Ereignis Kanye West einlassen kann. Der Rollout, das Leben im Stadium, die Listening-Partys, die verschobenen Releases, die alle in dieses gigantische, irre Album geführt haben. All die Instanzen, in denen er ein kolossaler Dummbatz gewesen ist. Es führt alles an einen Ort, der trotz alledem weiter nicht vom Mittelmaß entfernt sein könnte.
"Donda" ist die ungefilterte kreative Breitseite eines Mannes, in dem alle Widersprüche dieses künstlerischen Jahrhunderts vereint sind. Es ist arrogant und größenwahnsinnig, aber reflektiert und verwundbar. Es versucht, den Problemen an die Wurzel zu gehen, produziert dabei aber nur neue Spannungsfelder. Natürlich löst "Donda" Kanyes jahrelange Komplexe nicht. Aber in all dem Spektakel, in all der Euphorie und in all der Manie findet er einen Ausdruck genuiner Läuterung. Es sollte niemanden überraschen, wenn dieses Album in den nächsten Jahren in seinem Ansehen nur wachsen wird - und in Rankings seiner Diskographie weiter oben auftauchen, als man es jetzt gerade für möglich hält.
42 Kommentare mit 321 Antworten
Bestes album ist 2021 no cap
Wann kommt denn jetzt eigtl die 6/5 Review von diesem Yannik?
Er verwirft wahrscheinlich Entwürfe af, weil er such unwürdig wähnt.
Vmtl ist er noch unschlüssig, welche Pieces vom Merch "engineered by Balenciager" er gönnen möchte.
ungehört 1/5
Sollte klar sein.
warum hörst du es dir nicht wenigstens mal an? bist du etwa nicht genreoffen, hmm?
Para hört lieber irgendwelche Skandinavierinnen 7h Orgel spielen.
Para, lass dich nicht unterkriegen. Selbstverständlich hast du recht. Lass es mich so sagen: Ungehört weil unhörbar 1/5
Schließe mich dem ungehört 1/5 an. Unhörbarer Schwachsinn der sich als anspruchsvoll zu verkaufen weiß...
Nette Gesellschaft hast du da, Para.
Danke dir.
"warum hörst du es dir nicht wenigstens mal an? bist du etwa nicht genreoffen, hmm?"
Habe jetzt auf den YT link geklickt.
Und ich muss mich revidieren.
Es ist tatsächlich noch größerer Dreck als ich befürchtet habe.
gehört 0/5
Schwingi, Meuri, ataxia...jetzt noch Ragism, dann ist dein persönlicher Sonderschulbus voll, Para.
ich und mein echt-fell-tornister stehen parat...
wann ist abfahrts-termin?
irgendwer muss ja den jungen auch etwas sinnvolles beibringen, nicht wahr!
Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.
Diese „ungehört 1/5“ - Kommentare sind irgendwie langweilig. Überall hier seh ich die.
Klingt nach trotzigem Kind. So wie wenn meine kleine Nichte schon vorher weiß, dass ihr das Eis nicht schmeckt weil es nicht aus der von ihr priorisierten Eisdiele stammt.
"Überall hier seh ich die."
Und Du bist diesbezüglich noch nicht darauf gekommen, dass es sich hierbei um eine Art "stehenden Begriff" oder "Running Gag" dieser Community handeln könnte?
Nein, auf diese Idee bin ich noch nicht gekommen. Habe offenbar einen anderen Humor.
Und dass, obwohl du hier schon seit 20 Jahren mitliest...
Ja, und seit 20 Jahren regt mich die Floskel "ungehört 1/5" auf.
So lange gibt's die noch nicht.
Gib zukünftigen Ungehört 1/5 Diffamierungen einfach ein Ungelesen 1/5.
Es ist nicht witzig aber meist eine gute Faustformel. Die meisten Kanye-Alben ab Graduation beginnend sind ungehört 2/5 und durchweg alle Mark Forster Platten sind ungehört 1/5. Sieh es mal so - wenn die Alben gut wären, würde man davon hören, weil es so außerhalb der Norm für den Künstler wäre, was gutes zu produzieren.
Ok. Kann sein, dass es die so lang noch nicht gibt. Ich glaub am Anfang von laut.de gabs statt dem Textfeld hier so extra Foren, bei denen man sich gar nicht anmelden musste um was reinzuschreiben. Aber egal. Die Idee mit dem „ungelesen 1/5“ hatte ich auch schon, dachte aber, den Witz haben bestimmt schon viele vor mir gebracht.
Ich kenne übrigens nichts von Kanye West. War mal kurz davor mir was zu kaufen, die Trump-Anbiederungen vor n paar Jahren haben mich dann davon abgehalten. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, da vielleicht was musikalisch lohnenswertes zu verpassen. Naja…
Gehört 1/5
die "reinschreiber" waren die verhassten drive by poster
No taste bruh
In 152 Ländern auf Platz 1. Das haben noch nicht mal die Beatles und Elvis zusammen geschafft. Kanye West ist der größte Musiker aller Zeiten, den die Menschheit jemals hervorgebracht hat, seit Aufzeichnung von Noten zumindest.
Scheint, dass sich seine Krisen und sein Glaube positiv auf seine Musik auswirken. Zumindest auf diesem Album. Ganz starkes Teil. Für mich eins der Alben des Jahres.
Finde das Album gelungen. Banger ist Off the Grid. Fivio Foreign Part ist göttlich, aber auch der Miniaufrtitt von Playboi Carti ist einprägend…Zeigt wie genial Kanye West manche Songs produziert…