laut.de-Kritik

Schon nach kurzer Zeit stellt sich das alte Gefühl wieder ein.

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Was schrieben kluge Menschen nicht schon alles über den Erfolg im Musikgeschäft, die Rezepte, wie dieser zu erreichen sei, und welche Elemente dafür günstig zusammenkommen müssten. Analysen über Analysen beschäftigten sich seit vielen Jahrzehnten mit der Frage, warum bestimmte KünstlerInnen den Durchbruch schafften und andere eben nicht. Die bittere Wahrheit lautet: In den meisten Fällen handelt es sich schlichtweg um Glück.

Dieses Glück hatten King's X nie. Zwar kratzten sie Anfang der 90er mal kurz an den Pforten der Mainstream-Aufmerksamkeit, als sie einige Videos auf MTV platzierten und einen Beitrag zum Soundtrack von "Bill & Ted's verrückte Reise in die Zukunft" beisteuerten, doch in klingende Münze zahlte sich das für die Band aus Houston nicht aus. Zu wenig vermarktbar war wohl ihre Mischung aus alternativem Hard Rock gemischt mit Beatles-artigen Gesangsharmonien, zu sehr zwischen den Stühlen saß das optische Gesamtpaket aus schwarzem Crooner mit Quasi-Irokesenfrisur und zwei weißen Hippie-Dudes.

Also blieb der sympathische Texas-Dreier immer ein Geheimtipp, beliebt zwar bei Musiker-KollegInnen und bei der schreibenden Zunft, sträflich ignoriert von der breiten Masse des Publikums. Als wäre es die Band selbst allmählich leid, verschwand sie nach ihrem zwölften Album "XV" nach und nach in der Versenkung. Eine offizielle Auflösung erfolgte zwar nie, aber außer sporadischen Auftritten hier und da schien das Kapitel King's X beendet zu sein. Schlagzeuger und (Background-)Sänger Jerry Gaskill erlitt 2012 und 2014 Herzinfarkte und musste sich einer schweren Operation unterziehen, die Zukunft der Band stand erst recht in den Sternen.

Dann drückte jemand die Vorspultaste, wir schreiben plötzlich das Jahr des Herrn 2022, und nach gefühlten fünfzig Ankündigungen und ebenso vielen Verschiebungen erscheint nun mit "Three Sides Of One" tatsächlich neue Musik des Rock-Trios. Die bangen Fragen lauten: Kann sie mit den alten Großtaten mithalten? Bekommt der inzwischen 71-jährige Doug Pinnick überhaupt noch gute Vocals hin? Tritt diese Band, die in so vielen Solo- und Seitenprojekten involviert war, noch als Einheit auf?

Absolut. In Houston drückte anscheinend auch jemand die Pausen-Taste, denn bei King's X steht die Zeit eindeutig still. Jeder der zwölf neuen Songs könnte auf einem der anderen Alben ab Mitte der 90er Platz nehmen und würde dort nicht auffallen. Was sich vielleicht ernüchternd anhört, beweist genau das Gegenteil: Die drei älteren Herrschaften können es noch und hauen richtig gutes Zeug raus, das vor Seele und Spielfreude nur so strotzt.

Schon nach einer Minute "Let It Rain" stellt sich das alte King's X-Gefühl wieder ein. Doug Pinnicks charakteristische und warme Stimme bringt den Soul mit, Ty Tabors Gitarre steuert ein erstes psychedelisches Solo bei, und der wieder genesene Jerry Gaskill haut ordentlich in die Felle. Produzent Michael Parnin kreiert dazu einen erdigen, heimeligen Sound mit Frequenzen, die besonders Tabors Instrument zugute kommen. Der spirituelle Anteil der Band zeigt sich in der schönen Ballade "Nothing But The Truth" und in "Give It Up" beweist Pinnick, dass er die alten Screams immer noch hinbekommt - eine höchst respektable Leistung in seinem Alter. Auf dem Song kommt auch seine knarzige Bassgitarre besonders gut zur Geltung.

King's X-Alben bestanden immer aus einer Mischung von rockigen Songs und Balladen, gesungen von einem der drei Musiker, unterstützt von den unnachahmlichen dreistimmigen Harmonien im Hintergrund. "Three Sides Of One" bildet da keine Ausnahme, lässt allerdings Jerry Gaskill ein bisschen öfter ins Rampenlicht als sonst. Dreimal darf er die Lead Vocals beisteuern, vermutlich auf seinen eigenen Kompositionen. Er ist nur der drittbeste Sänger der Texaner, aber seine inzwischen brüchige Stimme besitzt viel Charme.

Sehr ergreifend gerät sein Song "Take The Time", der sicherlich von seinem Herzinfarkt handelt und zum Schluss ein paar Streicher auspackt. Außerdem formuliert er einen der besten Reime der Platte: "I thought I was on holiday / Spoke the man who wrote the lyrics to Her Majesty" ("Holidays"). Eine kurze Verbeugung vor den alten Heroen, Paul McCartney klickt auf "gefällt mir".

Wo Songs von Jerry Gaskill und Ty Tabor stets auf der melodischen Seite bleiben, ist Doug Pinnick seit jeher für die härteren, sperrigeren Nummern verantwortlich. Man höre nur "Swipe Up" mit einer schleppenden Bassgitarre und verschiedenen leicht chaotischen Songteilen, die sich aber gut zusammenfügen. Der Song erinnert sehr an die ersten vier Alben, auf denen die Band aus Houston noch einen leicht anderen Stil spielte. Ein klares Highlight unter vielen. Als Rausschmeißer haben die drei dann noch das wunderbare Stück "Every Everywhere" im Gepäck. Sollte dies der letzte Song sein, den diese Ausnahmemusiker jemals aufnehmen, es wäre ein sehr schöner Abschied.

Doug Pinnick sagte in einem Interview: "Der Zug rollt und ich fahre seit 43 Jahren mit. Wir sind einfach alte Freunde." Man hört es.

Trackliste

  1. 1. Let It Rain
  2. 2. Flood Pt. 1
  3. 3. Nothing But The Truth
  4. 4. Give It Up
  5. 5. All God's Children
  6. 6. Take The Time
  7. 7. Festival
  8. 8. Swipe Up
  9. 9. Holidays
  10. 10. Watcher
  11. 11. She Called Me Home
  12. 12. Every Everywhere

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