laut.de-Kritik
Das ist die Definition von wack.
Review von Dennis RiegerDas Brot ist tot, lang lebe der König des Brotes! Wer glaubte, Boris Lauterbach alias König Boris würde nach der Auflösung der Deutschrap-Pioniere Fettes Brot seine musikalische Karriere an den Nagel hängen, machte die Rechnung ohne den Wahlhamburger. Wenig mehr als ein halbes Jahr nach dem letzten Konzert Seiner Majestät im Beisein von Doktor Renz und Björn Beton steht Lauterbach mit seinem zweiten Soloalbum schon wieder auf der Matte.
Der Promotext zu "Disneyland After Dark" verheißt ein Quasi-Konzeptalbum. Lauterbach nehme uns "mit auf einen Spaziergang durch die Stadt und zeigt uns die hellsten Ecken und die düstersten Abgründe von Hamburg-City oder irgendeiner anderen Metropole unserer Republik". Bereits auf dem zweiten Track des Albums zeigt uns der ortskundige König, wo sich vier der hellsten Ecken der Hansestadt befinden: "Auf Dem Balkon" der Radiomoderatorin Anne Raddatz steigt nämlich eine Party. Frau Raddatz war so nett, ein Intro für den Track einzusprechen, in dem sie mitteilt, nach einem harten Tag "unbedingt noch normale Leute" sehen zu wollen. Dürfte ich den Boris-Lauterbach-Award für die berufsjugendlichste Vocal-Performance des Jahres in einem deutschsprachigen Song verleihen, würde Frau Raddatz' Beitrag für den König selbst harte Konkurrenz darstellen. Boris I. verkündet nach dem Intro, von einem Lounge-Beat der billigeren Art begleitet, er wolle "heute Abend [...] dancen", ehe er zusammen mit Raddatz zum Refrain des Grauens ansetzt, in dem sie ihre Balkonparty besingen. Flöge Peter Pan an jenem Partybalkon vorbei, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass selbst er sich "Ich bin zu alt für so'n Scheiß!" denken würde.
Auch in "Kiss Me Kiss Me" und "Lieferservice" setzt der 49-jährige Lauterbach auf die unheilvolle Kombination aus 90er-Retro-Beats und Fremdscham-Lyrics. In erstgenanntem Track mit der Line "Deine Eltern sind scheiße, meine Eltern sind tot / Und wir wissen beide / Gott ist ein Idi-o-ot" muss seine Hoheit das O in Idiot mächtig strecken, damit dieses halbwegs ins Versmaß passt. Das blasphemische Potential der Zeilen schöpft König Boris indes nicht aus, im weiteren Songverlauf geht es ausschließlich ums Kiffen, Saufen, Knutschen und Schreien. Im direkten Vergleich mit den so unreifen wie unreinen Reimen in "Lieferservice" erscheint die Lyrik von "Kiss Me Kiss Me" jedoch quasi literaturnobelpreiswürdig.
"In Deiner Uniform sahste aus wie 'ne Fluglotsin oder 'n Postbote / Und ich dachte: Wow, von Dir hätt' ich gern 'ne Kostprobe", schwärmt Seine Exzellenz in Erinnerung an seine erste Begegnung mit einer lächelnden Unbekannten. Die Ode an die Lieferantin seines Abendessens kulminiert im Refrain in den Zeilen "Lieferservice, Liefer-, Lieferservice / Ich bestell jetzt immer um die gleiche Zeit, weil du mein Lieblingsgirl bist", ehe auch noch Chipmunk-Autotune zum fragwürdigen Einsatz kommt. Nicht nur die Bewohner des schicksten Viertels, sondern auch jene der Sozialbausiedlung würden vor Scham im Erdboden versinken, sollten sie beim Hören dieses Songs erwischt werden.
Einzig "Elefantenhaus" punktet in der ersten Hälfte der LP mit einem brauchbaren Beat und einem unterhaltsamen Text über die Schwierigkeiten eines Prototyp-Rappers, der lyrisches und wirkliches Ich nicht mehr auseinanderhalten kann, beim versuchten Kauf von einer Goldkette (hat kein Geld!), Koks (kennt keine Dealer!) und einer fetten Karre (besitzt keinen Führerschein!). Einzig die Kritik an der Objektifizierung von Frauen im Rap wirkt angesichts des Folgetracks ein wenig pharisäerhaft.
Nach der musikalisch fragwürdigen Besichtigung der hellen Flecken Hamburgs (Frau Raddatz' Balkon und König Boris' Wohnung) geleitet uns Seine Unerschrockene Durchlaucht in der zweiten Albumhälfte vor allem in die dunklen Ecken der Hansestadt, im Titeltrack etwa zu verlogenen Gestalten wie einem Weinhändler. Dessen düsteres Geheimnis? Er "trinkt am liebsten Bier aus der Dose". Trotz aller Flachheit der Lyrics: Die recht melancholische zweite Albumhälfte mit Tracks wie "Stadtratte", "Bunker" und "Das Blaue Vom Himmel" gelingt Lauterbach deutlich besser, nicht zuletzt, weil die musikalische und lyrische Skizzierung der Dunkelheit – und das überrascht angesichts der Diskografie des ehemaligen Fettes-Brot-Rappers – authentischer ausfällt als jene des Disneylands.
Ein kohärentes Ganzes ergeben die infantilen Partytracks und im weitesten Sinne sozialkritischen Electro-Halbballaden auf "Disneyland After Dark" nicht. Zum Schluss versucht sich Seine Multibegabung in "Beste" an einer Kombination aus beiden Elementen. Die Strophen der vergifteten Liebeserklärung an Hamburg machen trotz des gewohnten Holzhammerschwingens ("Und für eine Milliarde gibt's die Elbphilharmonie / Aber geile Akustik!") in Kombination mit dem einfachen, aber wirkungsvollen Beat durchaus Hoffnung auf einen versöhnlichen Albumabschluss. Doch jene Hoffnung löst sich durch den allzu offensichtlich auf die mit drei Promille betankten Hurricane-/Southside-Touristen schielenden Refrain ("Doch das Beste an der Stadt (Heeey!) / Sind du und ich") rasch in Luft auf. Der schließt nämlich nahtlos an die Qualität so mancher potentieller Trashpartyperlen aus der ersten Albumhälfte an. Mein liebster Boris, bei allem Respekt: Das ist die Definition von wack.
14 Kommentare mit 15 Antworten
Wer's verpasst verpasst nix.
Schon fies, dass Boris in der Rezi als "Wahlhamburger" gedisst wird...
Er hätte nach dem Ende von Fettes Brot etwas machen können was keinerlei öffentliche Erscheinung seinerseits bedeutet hätte und dann kommt sowas....warum Boris?
Warum, Boris? wäre ein guter Name für ne Punkband.
"Warum, Boris? wäre ein guter Name für ne Punkband" wäre ein guter Name für ne Punkband.
nääh
Ja, der's auch nicht übel.
„Was hat dich bloß so ruiniert“, um es mit den Sternen zu sagen.
Schon sad, was aus Bürger Lars Dietrich geworden ist.
Sein erstes Soloalbum fand ich noch ziemlich gut. Wegen Referenz an die 80er und so...da waren die Songs auch tighter und die Texte nicht so anbiedernd gezwungen jugendlich und voller Wiederholungen.
Das hier? Eher so Lyrics und Beats, die ich, nachdem ich wieder nüchtern bin, löschen oder überarbeiten würde.
Soll "Zuhause angekommen" eine Verneigung vor Massive Attack sein?
Irgendwie ein Demotape mit unausgegorenen Textnotizen.
Schade eigentlich. Mal sehen, was bei dem Output wieder in 12 Jahren kommt.
@Ragism
Hab auch überlegt, von wem das alternativ stammen könnte. Bin bei Lyrics und Vortrag dann beim Erstlingswerk von Andreas Elsholz hängen geblieben. Fast schon schade, dass ich nicht mehr gegenhören kann. Der 1€ Spaß-Flohmarktkauf ist seit 20 Jahren "verliehen".
Zweite Hälfte deutlich besser, zwei Punkte sind fair.
Das mit Andreas Elsholz hat mich jetzt interessiert.
Auf Spotify gibt's immerhin den Song "Immer noch verrückt nach dir" zu hören. Wow, ein besseres Beispiel für "Fremdscham" wird schwer zu finden sein...