laut.de-Kritik

Fuck you, Männerrock - Die Revolution beginnt beim Tanzen!

Review von

"I won't stop talking. I am a girl you have no control over. There is not a gag big enough to handle this mouth." (The Punk Singer – The documentary about Kathleen Hanna)

Seit Beginn der 90er kreischt Kathleen Hanna aus Olympia, Washington, mit ihren Punk-Garagen-Grrrl-Bands Bikini Kill, Le Tigre und Julie Ruin frauenfreundliche Parolen ins Megafon. Die männerdominierende Rockszene muss sich jetzt warm anziehen. Hanna gehört zu den bekanntesten Vertreterinnen der amerikanischen feministischen Bewegung und gilt nach wie vor als Stilikone der Riot-Grrrl-Bewegung. Sie schreibt, schreit und rebelliert. Hauptsache, es knallt und macht süchtig!

Krachend und laut ist auch das erste Studioalbum von Le Tigre. Die Platte aus dem Jahr 1999 heißt genauso wie die Band und ist noch heute ein musikalisches Denkmal der Frauenbewegung. Hier trifft Lo-Fi-Sound (Oldschool Elektronik) und Shangri-Las-Chorgesang auf Punk, New Wave (Keyboards) und Hip Hop-Einflüsse (Drum-Machine).

Ursprünglich sollte Le Tigre nur als Background Band von Hannas Solo-Projekt Julie Ruin dienen. Doch mit Fanzine-Schreiberin Johanna Fateman und Videokünstlerin Sadie Benning (ab 2001 JD Samson) entsteht 1998 ein fauchendes Lo-Fi–Küchen-Tanz-Trio. Themen wie Gewalt und Sexismus prägen die Lyrics. Bereits in den 80ern veranstaltet Kathleen Hanna Spoken-Word-Events, wo sie selber spricht und sich auch später immer wieder über Weiblichkeitswahn und Diskriminierung von Frauen in der Punkszene äußert.

Die Revolution beginnt beim Tanzen. Rotzfreche Gitarren wuseln sich durch das Chaos der Gefühle. Schriller Gesang und abgefahrene Electro-Sounds sorgen für den nötigen Clash. Elektro meets Punkrock. So auch beim Opener "Deceptacon": "I can see your disco Disco dick is sucking my heart out of my mind. I'm outta time, i'm outta fucking time. I'm a gasoline gut with a vasoline mind but wanna disco? Wanna see me disco?" Diese Zeilen werden automatisch mitgegrölt, wenn der Song aus den Boxen dröhnt.

Ein frustrierter Aufschrei, in dem sich Le Tigre lauthals dagegen wehren, dass auch die Spice Girls plötzlich als Riot Grrrls vermarktet werden. Ein mächtiger Keyboard-Bass-Sound-Wirbel hält dagegen und die Zeile: "Who took the Bomp from the Bompalompalomp" bleibt für immer hängen. Diese beruht auf Barry Manns 60s Doo-Wop-Hit "Who Put The Bomp (In The Bomp, Bomp, Bomp)" beruht. Ein dynamischer Riot-Rap-Hit zum Ausrasten.

Als Riot-Grrrl möchte Hanna heutzutage nicht mehr bezeichnet werden. Da gab und gibt es noch viele andere (The Slits, Team Dresch, Sleater Kinney...) und die Zeiten ändern sich. Es gibt neue Bands und Formationen in der Garagen-Pop-Punk-Szene, die mit eigenen Bezeichnungen und Parolen die Szene aufmischen, auch wenn die Themen (Gleichberechtigung, Rassismus, zu viel Männerrock auf den Musikbühnen) geblieben sind. Erase Errata aus San Francisco gehören dazu, zumindest von 1999-2015. Oder auch Gurr aus Berlin, die nicht nur Tauben gruselig finden, sondern auch ihr Genre ganz einfach mal neu erfinden: First Wave Gurrcore!

Zahlreiche Aktivisten und Künstler, die Le Tigre inspirierten und beeinflussten (u.a. Gertrude Stein, Joan Jett, James Baldwin) werden im Song "Hot Topic" genannt und bejubelt (ein Chor aus verschiedenen Stimmen ruft am Ende die Namen auf). Eine musikalisch eher entspannte Doo Wop-Popnummer mit einigen Loops und Spielplatz-Atmosphäre.

"What's Yr Take On Cassavetes" handelt von Independent-Regisseur und Drehbuchautor John Cassavetes, dessen Filme und Stories von vielen Leuten oft nicht verstanden werden. Kathleen Hanna schreibt den Song, nachdem sie "Ehemänner" (Husbands, 1970) gesehen hat. Darin wimmelt es nur so von chauvinistischen Typen in den 40ern. Aber es ist ein ehrliches Porträt, und sie bewundert den Mut, Filme zu drehen, die nicht perfekt in Szene gesetzt sind. Ohne Drehbuch, improvisiert und möglichst unperfekt. Passt demnach perfekt zur Musik von Le Tigre. Hier beginnt der Cassavetes-Song mit einem quiekenden Möwen-Sample und einigen gesprochenen Worten, bevor die Drum-Maschine den Rhythmus angibt. Das Frage-Antwort-Spiel wird ausgerufen: "Misogynist? Genius?" Frauenverachtend? Oder Genie? Entscheiden Sie selbst.

Bei Le Tigre gibt es keine Sound-Regeln. Da folgt auf Maschine ein krachendes Gitarren-Gewitter mit kreischendem, Hauptgesang und harmonisch gesungenem Refrain: "All that glitter is not gold". Die Mainstream Popkultur aus der Sicht von Le Tigre verwischt knallhart alle Illusionen und blickt hinter die glanzvolle Kulisse ("The The Empty").

Mit der scheinheiligen Glitzerwelt wollen Le Tigre nichts zu tun haben. Dennoch unterstützen sie ihren Promi-Fan Christina Aguilera 2010 bei ihrem Album "Bionic". In berühmten Musikerkreisen bewegt sich Kathleen Hanna sowieso schon immer. Zu Studienzeiten schrieb sie mit Kurt Cobains Freundin Tobi Vail für die Fanzines Girl Style Now und Bikini Kill (diesen Namen gab sie Ende der 80er ihrer Punkband). Sie zeichnet auch verantwortlich für den Nirvana-Hit "Smells Like Teen Spirit" (Nevermind), da sie an Kurt Cobains Wohnungswand den Satz "Kurt smells like Teen Spirit" schrieb, weil er damals ein Deo mit dem Namen Teen Spirit benutzte. Und dann ist Kathleen auch noch seit 2006 mit Adam Horovitz von den Beastie Boys verheiratet.

Aber auch ohne ihren berühmten Freundeskreis schafft sich Kathleen Hanna einen bedeutenden Namen in der Musikgeschichte und schreibt Songs für die Ewigkeit. Ein weiteres Highlight auf dem Debüt: "My My Metrocard". Dieses energiegeladene Stück könnte direkt aus der Punk-Garage von Thee Headcoatees kommen. Darin bekommt der damalige New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani ordentlich sein Fett weg. Er setzte in den 90ern alles daran, die Stadt gründlich "aufzuräumen". Vor seinem Amtsantritt war Manhattan ein bunter und kreativer Ort. Nach seiner "Null-Toleranz-Strategie" können sich dort Künstler und Kreative keine Mieten mehr leisten und Le Tigre bringen es kurz und knapp auf den Punkt: "Oh fuck Giuliani, he's such a fucking jerk".

Während die Party-People Kate, Cindy und Co. von den ebenfalls großartigen The B-52's mit schrillen Retro-Outfits und Bienenkorb-Frisuren für "Special Effects" sorgen, gibt es auch bei Hanna, Johanna und Sadie extravagante Bühnen-Klamotten. Die führen sie vor mit spektakulären DIY-Tanz-Performances und multimedialer Videokunst. Zu Beginn spielten Le Tigre ausschließlich vor weiblichen Zuschauern. Das hat sich im Zuge der Popularität dann geändert. Die Verteilung der Instrumente, Megafon und Mikrofone allerdings nicht. Hier sind alle drei Musikerinnen gleichberechtigt und wechseln gerne ihre "Geräte" und Stimmen während des Live-Spektakels.

"Les And Ray" lässt auch mal ruhige Momente zu. Hier wird nicht gekreischt, sondern eine fast schon süße Stimme mit Glockenspiel erklingt zum Finale: "You were my oxygen, the thing that made me think I could escape. This is a thank you song for Les and Ray." Ein Dankeschön verdienen auch Le Tigre und alle Musikerinnen im großen Musik-Universum. Der Popfeminismus braucht Genies. Kathleen Hanna ist eine davon. Dies wird auch noch mal in der Dokumentation "The Punk Singer" (2013) von Sini Anderson mehr als deutlich.

Auch wenn es ruhiger geworden ist um Le Tigre, Kathleen, Johanna und Sadie sind nach wie vor aktiv und die Parole lautet immer noch: "All girls to the front!" Also, gründet mehr Rock-Girls Bands!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Deceptacon
  2. 2. Hot Topic
  3. 3. What's Yr Take On Cassavetes
  4. 4. The The Empty
  5. 5. Phanta
  6. 6. Eau D'Bedroom Dancing
  7. 7. Let's Run
  8. 8. My My Metrocard
  9. 9. Friendship Station
  10. 10. Slideshow At Free University
  11. 11. Dude, Yr So Crazy
  12. 12. Les And Ray

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