laut.de-Kritik
Lässt das mögliche Ende von Sonic Youth vergessen.
Review von Josef GasteigerSonic Youth-Sideman Lee Ranaldo tritt aus dem Schatten. Nach dem Ehesplit von Thurston Moore und Kim Gordon ist das erste Lebenszeichen von Sonic Youth ein wunderbar songorientiertes Popalbum von Ranaldo, der bisher in Soloprojekten eher unaussprechlichen Avantgarde-Krach verbrochen hat. Ist das nur Zufall?
Der alte Akustik-Klampfer fiedelte sich einen Haufen Songideen aus dem Ärmel, die dann mit hochkarätigen Freunden wie Wilcos Nels Cline oder SY-Bandkollege Steve Shelley an den Drums in die richtige Form gegossen wurden.
Zehn Tracks fasst Lee zusammen, die nach den bisherigen Soloausflügen im flotten Alter von 56 quasi sein Debüt in Sachen Songform darstellen. Und den Ehe- und wahrscheinlich Bandbruch von Sonic Youth komplett vergessen lässt. Denn, dies sei ohne jede Schwermut gesagt, Ranaldo liefert ein gar zauberhaftes Album ab.
Mit Songs wie "Off The Wall", "Angles", "Lost" oder "Tomorrow Never Comes" zimmert Lee tadellos perfektes Pop-Liedgut. Die Melodien bahnen sich den Weg durch perfekt inszenierte Klangteppiche aus kuschelig-angezerrten Gitarren und akustischen Seitenreibereien, darüber säuselt Lees Stimme. Dank Steve Shellys eigenem Rhythmusverständnis rumpelt der Sound fernab jeglicher computerindizierten Sterilität.
Viel passiert und alles ist möglich in den Tracks, denen auch bei verzerrten Gitarren stets noch eine Akustikgitarre zugrunde liegt - diese akzentuiert und lockert die Sounddichte auf. Die zwei Gitarristen entgehen dabei gerade noch dem Drang, alles mit Saitenfreakouts zuzuschütten. Nels Clines und dessen Großtaten als Verziehrer und Textur-Spieler finden in Ranaldo den magischen Gegenpart - beide halten sich aber vergleichsweise zurück und vermeiden den Gitarren-Overkill.
Und wenn dann der Gitarrensolospot doch mal heller leuchtet, passt es wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Dennoch bleibt die Songform an sich stets im Mittelpunkt: Sie speißt sich aus fünf Dekaden Rock'n'Roll- und Pop-Wissen und durchläuft anschließend den Sonic Youth-Filter. Detailverliebtheit und großartige Refrains stehen nebeneinander, sahnige Gitarrenlines schneiden durch Krachwände wie warme Messer durch Butter.
Exemplarisch steht dafür "Fire Islands (Phases)": Ein direkter Wechsel vom "All Along The Watchtower"-Gedächtnisjam in den Plattenschrank der Eagles und retour, dazu Clines Gitarrensalven, und zum Schluss winkt noch Elvis rüber. Costello, nicht Presley. Auf sechs Minuten. Wer einen Hut trägt, möge ihn ziehen.
Wird es krachiger, um nicht zu sagen noisiger, öffnet Lee, der sich zuweilen wie ein agiler Michael Stipe anhört, zum richtigen Moment - d.h. meist in den Refrains - mit warmen Akkorden die Herzen. Denn wer würde sich nicht damit abfinden, wenn nach dem locker flockigen Sonnenstrahl namens "Off The Wall" eine gruselige, siebenminütige Trinker-Nostalgie ("Xtina As I Know Her") folgt, mit einer jeden Metrums entfliehenden Gitarre. An den Massengeschmack anbiedern wird sich ein Lee Ranaldo auch im Jahr 2012 nicht.
Düstere Dissonanz und alternative Gitarrenstimmungen bleiben seine Angelegenheiten, jedoch setzt er diese auf "Between The Times And The Tide" geradezu als Stilmittel ein, ohne dabei kalkuliert zu klingen. Das verbietet allein schon die Sonic Youth-Historie, aber selbst ohne die Grande Dame der Alternative-Bands im Lebenslauf hätten die Nummern Bestand. Gerade im Vergleich mit den Outputs seiner populäreren Weggefährten Thurston Moore oder Silberlocke J Mascis, hinterlässt der gute Lee den stärkeren Gesamteindruck.
Alle Songs entstanden auf der Akustikgitarre, auf dem Album landeten schlussendlich nur zwei in der Unplugged-Version ("Hammer Blows" und "Stranded"). Dass beide Songs mit den Alben der beiden zuvor Erwähnten ordentlich Schlitten fahren, sei nur am Rande erwähnt. Viel imposanter wiegt Ranaldos Instinkt, welchen Songs er ein Bandarrangement verpasst und bei welchen er sich in Zurückhaltung übt. Und aus heiterem Himmel eine Überraschung des fast noch jungen Jahres hinlegt.
Die Platte verlangt etwas Respekt, etwas Zeit und Konzentration. Als Belohnung könnte sie einen dann mindestens bis in den Sommer hinein begleiten. Das ist die Geschichte eines großen Sonic Youth-Albums, das eigentlich keines mehr ist. Willkommen im Scheinwerferlicht, Lee!
2 Kommentare
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Das mit dem Kalkbrenner überleg ich mir noch, aber Ronaldo ist auch direkt mein Ding.
That's what I call rock'n'roll!