laut.de-Kritik
Lost in these memories.
Review von Alex Klug20 Jahre "Meteora": 2003 schickten wir das Album hier mit drei Punkten nach Hause – im damaligen Vergleich zum doch sehr ähnlichen Vorgänger "Hybrid Theory" sogar halbwegs verständlich. Gemessen aber an Einfluss, Erfolg und Eignung als 2000er-Zeitkapsel müsste man da in der Retrospektive eigentlich noch einmal mit Hammer und Meißel ran und solange bildhauern, bis am Ende einzig der verdiente Meilenstein bleibt.
Wieso (mehr Reife), weshalb (mehr Ohrwürmer), warum (zeitloserer Sound) "Meteora" nun aber wirklich eine deutlich bessere Kopie seines Vorgängers ist, muss vermutlich an anderer Stelle geklärt werden – auch wenn Linkin Park-Gitarrist Brad Delson die unübersehbaren Parallelen im Interview großmütig zugibt. Klar ist: Der Impact auf in den späten 80ern / frühen 90ern in die Welt geworfene Kids, die sich schon mit "Numb"-, "Faint"- oder "Somewhere I Belong"-Lyrics identifizierten, ehe die Pubertät ihnen ein tiefer gehendes Gefühlsleben bescherte, ist jedenfalls nicht kleinzureden.
Den Blick wollen wir an dieser Stelle auf die teils erstmals erscheinenden "Bonus"-Discs richten, die 2023 in mehreren – teils wirren – Konfigurationen erscheinen.
Neben dem Studioalbum von 2003 ("digitally remastered", hilft ja nix) beschert die Band dem ebenfalls 2003 erschienen "Live In Texas" sein erstes offizielles Vinyl-Release. Eine Schwarzpressung gabs übrigens schon 2021, schön mit Pausen zwischen den Tracks, liebevollste Bootleg-Arbeit eben. (Nicht.)
"Live In Texas" entstand nur wenige Monate nach "Meteora"-Release auf Tour mit Metallica, Limp Bizkit, Deftones und Mudvayne. Und auch wenn in der damaligen Live-DVD natürlich ausnahmslos mitsingende Fans in den vorderen Reihen (und ein paar interessante Shirt trocken/Shirt nass/Shirt trocken-Schnitte) zu sehen sind, bleibt unklar, warum sich Linkin Park damals für die Veröffentlichung eines – potenziell ja erst einmal undankbaren – Vorband-Gigs entschieden.
Dabei zeigt "Meteora|20" ja, dass es durchaus veröffentlichungswürdiges Headliner-Material der ohnehin stets mitschnittfreudigen Gruppe aus demselben Jahr gibt: Das bisher ungehörte "Live In Nottingham 2003" steht seinem texanischen Bruder in nichts nach, ganz im Gegenteil: Hier zeigen Linkin Park eine sympathische Live-Dynamik, die "Live In Texas" immer gefehlt hat.
Im euphorischen Wechselsprech feuern Chester Bennington und Mike Shinoda die aus 2000 Fanclub-Mitgliedern bestehende Menge gemeinsam an – und die lassen sich auch wirklich anfeuern, rasten angesichts der damals brandneuen Tracks hörbar aus. Obendrauf gibts hier auch noch die nach 2003 nie mehr live gespielten "Meteora"-Tracks "Hit The Floor" und "Easier To Run" – letzterer wischt mit der Albumversion übrigens den Boden. Wer vermisst da noch "Numb"?
Viel ehrlicher machen das Release auch die kleineren Fehler ("With You"). Die waren damals noch ein heikles Thema für die Band, die später sogar Fehler aus am Konzertabend verkauften USB-Sticks rausschneiden ließ. Hält man im Hinterkopf, dass die meisten dieser Tracks nur eine Woche zuvor Live-Premiere feierten, so ist diese Form von Authentizität doch ein absoluter Wohlklang.
Ebenfalls inkludiert sind die – teils schon bekannten – "Live-Rarities". Die gefühlige Pianointerpretation der "Hybrid Theory"-B-Seite "My December" lässt schon einmal das ab der Folgetournee fest etablierte Klavierballaden-Set vieler Linkin Park-Shows durchblitzen, generell zeigt die Disc die Band aber noch voll im Nu Metal-Saft: Das Rap-Medley "Step Up/Nobody's Listening/It's Goin' Down" beamt Kenner direkt zurück zum 2004er-Rock-am-Ring-Auftritt, als Shinoda noch mit Swagger-Attitüde und weiten Klamotten gen Publikum stolzierte. Mehr Nineties geht nicht? Wir hätten da auch noch ein Jonathan Davis-Feature auf "One Step Closer" und das Nine Inch Nails-Cover "Wish" (nur echt mit zensierten Fucks).
Die einstige Fanclub-Disc "LPU Rarities 2.0" geisterte schon früh durch Kazaa und LimeWire und ist damit nicht wirklich neu. Als ergänzendes Behind-The-Scenes-Element zu den "Lost Demos" taugt sie aber trotzdem – schließlich ist es ja auch ein Schuss Entstehungsprozess-Voyeurismus, der dem "Ja" zu Boxset innewohnt.
"Lying From You" zeigt noch mal unverblümt, wie (nach)elektrisiert die meisten Drumparts hier doch eigentlich sind, "Figure.09" hat noch ganz andere Melodien als im Endprodukt, während Mikes charmante "Breaking The Habit"-Demo enthüllt, warum er erst ein Album später als Lead-Sänger ans Mic gesteppt ist.
Neben Demos bekannter Tracks gibts viele sporadische benannte (Halb-)Instrumentals: "Programm" und "Unfortunate" gehen mehr in die elektronische Richtung eines "Breaking The Habit", Nummern wie "Soundtrack" und "Omnious" liegen stilistisch näher an Maybeshewilleskem Post-Rock, als man das zugeben mag – umso graziöser das seit jeher gekonnte Songwriting der Pop-Gesangslinien, die erst später oder (wie hier) teils nie folgten. Viele Instrumentals sind noch mal so viel simpler als man denkt, gleichzeitig aber leuchten sie aus, wie gut Komposition und Produktion im Hause Linkin Park Hand in Hand gingen und gehen.
Wirklich spektakulär ist aber vor allem natürlich der Beginn der "Lost Demos" – die finale und einzige Disc, die es in keiner Konfiguration auf Vinyl zu erstehen gibt. Hmpf. Immerhin: "Fighting Myself", "More The Victim" und "Healing Foot" sind ebenso wie das vorab gehypte "Lost" erstklassige Nahrungsergänzung für hungrige Crossover-Fans der ersten beiden LP-Alben. Einzig "Massive" schlabbert ein wenig vor sich hin.
Allen Kommerzprodukt-Beschimpfungen zum Trotz agierten die Linkin Park der frühen 2000er immer recht sparsam mit wirklichen B-Seiten – als hätten sie beim Verbuddeln und Vergessen der Nostalgie-Hymne "Lost" geahnt, dass sich zwanzig Jahre später zwei ganz andere Märkte auftun würden: Streamingcharts und Boxset-Fetischismus. Wanna find something I've wanted all along.
1 Kommentar
Geil! Das bringt Flashbacks zur guten Zeit! Interessant sind vor allem die Lost Demos find ich. Frage mich nur, ob die wirklich von damals sind... da sind echt gute Sachen dabei.