laut.de-Kritik
Auf der Kirchenbank wird geschwiegen.
Review von Alex KlugVon der Bierdusche in die Kulturkirche: Obgleich sie als deutsches Aushängeschild jüngerer instrumentaler Rockmusik gelten, haben Long Distance Calling durchaus schon einige Experimente hinter sich. Gesang als Feature-Gimmick, Gesang im Zentrum des Geschehens, Gesang auf der Bühne. Die wirkliche Konstante aus sechs Studioalben jedoch: Die filigrane, perfektionistische Instrumentalarbeit des Kernquartetts David Jordan, Florian Füntmann, Jan Hoffmann und Janosch Rathmer.
Und diese Arbeit wollen Long Distance Calling nun auf "Stummfilm" einmal so richtig in den Mittelpunkt rücken. Kein einziges Wort fällt während der Songs, stattdessen stockt der Vierer sein Live-Personal an Cello, Percussions und Electronics auf. Wo Long Distance Calling auch sonst gerne einmal Slots auf Metal-Festivals belegen und Kuttenträger in die Großstadtclubs ziehen, sind lang- und kurzhaarige Musikfreunde im Rahmen des hier mitgeschnittenen Dates der "Seats & Sounds"-Tournee gebeten, sich lammfromm auf den Bänken der Kulturkirche Hamburg-Altona zu platzieren.
Und gerade bei mit Stromgitarren sozialisiertem Publikum zeigen Sitzplätze eine oft magische Wirkung. Sie lassen die Bierbecher am Boden, legen den Fokus auf die Musizierenden und erzwingen ein erzkonservatives Schweigen. Was für ein hübsches Setting, um das zehnjährige Jubiläum des Zweitwerks "Avoid The Light" einzubetten. Denn es sind ja gerade frühe Longtracks wie "Apparitions" und "Sundown Highway", die einen dicken Strich unter die ohnehin berüchtigten Live-Qualitäten Long Distance Callings setzen. Oh ja: Von obligatorischer Spielfreude und berüchtigter Tightness einmal abgesehen, zeigt "Stummfilm" eine Band, die sich in ihrem Spiel immer wieder miteinander, aber eben auch im Strom aufeinander zubewegt.
Die Theater-Atmo ist dabei allgegenwärtig, das zarte Klatschen der frohlockenden Anwesenden verhallt in den Untiefen des Raumes, dem die etwas statische Rückkamera-Perspektive leider nur in Teilen gerecht wird. Dennoch: Die durchaus metallischen Riffs von Tracks wie "I Know You, Stanley Milgram" mit solcher Wucht durch eine Kirche zu jagen – alle Achtung.
Gerade die hier zur Genüge vertretenden Tracks der Frühphase lassen keine Zweifel daran, warum Long Distance Calling vor rund zehn Jahren ihren Namen ans nationale Post-Rock-Gipfelkreuz genagelt haben. "Avoid The Light", aber auch Tracks wie "Into The Black Wide Open" und das infernalische Finale "Metulsky Curse Revisited" arbeiten mit präzisen, bisweilen glatten Soundflächen, die weniger mit verspieltem Pomp denn mit schierem kompositorischem Talent punkten. Es sind Nägel, die noch eine ganze Weile halten werden.
Der erdige Sound tut sein Übriges. Schließlich können gerade neuere Platten wie "Boundless" nach einigen Hördurchläufen in ihrer etwas zu gestriegelten Glätte durchaus aufstoßen. "Stummfilm" überführt alte wie neue Tracks in einen angenehm luftigen Raumklang, der den Hörer sanft in der Mitte des Geschehens platziert. Totgefilterte Schlagzeugfrequenzen sind hier Fehlanzeige. Vielmehr ist es, als hätten dich deine Kumpels in den Proberaum eingeladen – und urplötzlich etwas verdammt Großes erschaffen. Anders dürfte es wohl auch zu "Avoid The Light"-Zeiten nicht gewesen sein: Die vier Grinsebacken spielen um ihr Leben – und du stehst mit offenem Mund daneben.
Auch visuell trägt die gloomy Atmosphäre allemal. Denn gerade weil das stillschweigend genießende Publikum eine durch und durch passive Rolle einnimmt, wird "Stummfilm" in der Blu-Ray-Version zum echten Heimkino-Genuss. Da wäre auch ein Verzicht auf die wenigen Ansagen nicht das Schlechteste gewesen. Andererseits sollten Danksagungen an Techniker und Kollegen natürlich auch nicht dem Schnitt zum Opfer fallen.
Ein wenig Gejammer sei erlaubt: Im Grunde könnte man "Stummfilm" jedem Long Distance Calling-Neuling nicht nur guten Gewissens als Referenzwerk, sondern auch gleich als Best-Of ans Herz legen. Schade ist es gewiss um den Wegfall des "Avoid The Light"-Tracks "The Nearing Grave". Ein viel bittererer Tropfen Wermut ist jedoch mit dem gänzlichen Verzicht auf die exzellenten Tracks des Viertwerks "The Flood Inside" zu schlucken – gehören Nummern wie "Nucleus" doch mit zum Feingliedrigsten, was die Gruppe jemals hervorgebracht hat.
Aber dafür dürfte ja auch noch im nächsten Jahr Zeit genug sein. Dann geht die "Seats & Sounds"-Tour in die nächste Runde – und gastiert dabei auch erneut in Hamburg. Statt in Altona kehrt die Truppe dann jedoch direkt am Hafen ein. Und mal ehrlich: Viel schöner ließe sich das neue Kapitel, das die Band mit Sitzplätzen, Surround-Anlagen und Stummfilmen nun anschneidet, wohl kaum metaphorisieren. Ab 2020 sind Long Distance Calling eine echte Elbphilharmonie-Band.
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