laut.de-Kritik
Verirrt im eigenen Talent.
Review von Hannes WesselkämperWas ein wahrer Neo-Hippie ist, der ist nicht nur - wenn männlich - bärtig und strickt. Nein, der muss auch sein eigenes Musikerkollektiv haben. Ohne einen charismatischen Leader geht das natürlich nicht, das wussten schon die musikalischen Massen von The Polyphonic Spree unter Mastermind Tim DeLaughter. Zwar nicht mit einheitlichen Kutten, dafür mit einem ähnlich herausstechenden musikalischen Führer treten Lost In The Trees auf. Ari Picker kommt frisch von der Musikhochschule und schart sieben bis 27 Musiker um sich. Was dabei herauskommt, nennt Picker gern "Orchestral Folk Music".
Musikerkollektiv, rothaarige Frau vor altem Ofen auf dem Cover und Titel wie "Walk Around The Lake", "Fireplace" oder "Wooden Walls Of This Forest Church" lassen die Erwartungen in die Höhe steigen. So richtig heimelig wird es dann aber erst einmal doch nicht. Während man sich zum Opener "All Around The Empty House" gerade vor den Kamin gekuschelt hat, bläst einen das folgende "Walk Around The Lake" aus dem Sofa. Der vormals sanft eingestreute Streichereinsatz wächst hier zum Klassik-Overkill à la Hans Zimmer. Was würde die Rothaarige vom Coverbild dazu sagen?
Ari Picker und Konsorten machen wundervolle Musik. Die vielfältigen Einflüsse zerteilen jedoch einen möglicherweise eingängigen Neo-Folk geradezu. An einem Ende zieht die große Bewunderung für Film- und klassische Musik, am anderen Ende zerren die schrammeligen Indie-Folk-Gitarren von Neutral Milk Hotel. Musikalische Expertise beweisen Lost In The Trees allemal, nur macht das unreflektierte Zusammenwerfen verschiedener Stile eine eigenständige Identität der Musik unmöglich.
Für "Mvt. 1 Sketch" hätte Ari Picker eigentlich seine ganz eigene Büste auf meinem Schreibtisch verdient. Geigen singen hier im Zusammenspiel mit Cembalo und Kontrabass ein Lied, das schon vor 250 Jahren Menschen in Ekstase versetzt hätte. Das ebenfalls instrumentale "Mvt. 2 Sketch" bildet den melancholischen, dem ersten Teil in seiner Genialität absolut ebenbürtigen Gegenpart.
Dass Indie-Folk und klassische Einflüsse auch eine homogene Masse in Form von wundervoller Musik bilden können, beweist dann "Fireplace", der Höhepunkt des Albums. Da muss niemand den Vergleich mit Arcade Fire fürchten. Lost In The Trees schaffen eine hier ähnliche dichte Atmosphäre wie die Kanadier auf ihrem ersten Silberling "Funeral". Auch "We Burn The Leaves" fällt in diese Sparte, die Ari Picker sehr gut steht.
Die meisten Songs des Albums zeugen von der musikalischen Bewandertheit des Kollektivs und stellen – für sich gesehen – kleine Meisterwerke dar. Die Heterogenität der CD bildet allerdings zugleich einen Stolperstein. Es bleibt zu wünschen, dass Lost In The Trees diesen überwinden, ohne dabei die oben genannten Bands zu kopieren oder allzu eintönig zu klingen. Sollte sich dies im nächsten Langspieler bewahrheiten, wird gnadenlos gehypet. Versprochen!
1 Kommentar
Allein Song for the Painter ist großes Kino. Was an dem Teil der Stolperstein sein soll, hab ich nicht gerafft. Ganz großes Album.