laut.de-Kritik

Herr Duda traut sich was.

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Wenn Künstler, die als Rockmusiker bekannt wurden, die E-Gitarre beiseite legen und sich der elektronischen Musik zuwenden, sorgt das bei ihren Fans nicht immer für Verständnis. Anders verhielt es sich bei Mariusz Duda, Sänger und Bassist von Riverside. Im Gegensatz so manch anderem Wunderwuzzi umschiffte er bisher Uptempo-Electronica und widmete sich ausschließlich langsamen, sphärischen Klängen. Und nun? Geht Duda auf "AFR AI D" erstmals ins Risiko, indem er die Geschwindigkeit seiner Songs zumeist deutlich anhebt. Und auch sonst hat sich Einiges geändert.

Angekündigt wurde "AFR AI D" als Konzeptalbum über – nomen est omen – die Risiken und Nebenwirkungen Künstlicher Intelligenz. Daher verwundert es, dass man im Opener "Taming Nightmares" nicht mit Lyrics behelligt wird. Stattdessen grummelt eine durch einen Vocoder verfremdete Stimme Unverständliches. Zu jenem Grummeln gesellen sich unter anderem ein Bassgrollen, Synthies und später eine clubtaugliche Drum-'n'-Bass-Tonspur. Nach sechs Minuten schlägt Mateusz Owczarek auch noch die Saiten seiner E-Gitarre an. Das klingt auf dem Papier genauso verworren wie das, was aus den Boxen tönt. Und verdeutlicht: Die Zeit des Minimalismus, dem Duda auf den Lunatic-Soul-LPs und seinen vorherigen drei (zu Recht) unter dem Radar geflogenen Soloalben frönte, ist vorbei. Jetzt werden die Tonspuren munter übereinandergelegt. Herr Duda traut sich was.

"Good Morning Fearmongering" überzeugt im Gegensatz zum Opener: Die Synthies bilden ein Fundament, das man auf dem vorherigen Track vermisste, die Drum Machine treibt vorwärts. Hier legt Duda einen Song vor, der zumindest in Clubs, in denen die Schwarze Szene verkehrt, gespielt werden könnte. Anders als der Songtitel suggeriert, muss man nicht befürchten, dass unnötige Laberei die Tanzbarkeit beeinträchtigen könnte: "AFR AI D" bleibt bis zum letzten Song – abseits von durch den Vocoder gejagten Stimmen, die Vokale auseinanderziehen, "Hey, hey, hey, hey!" rufen oder Unverständliches brabbeln – textfrei. Das ist insofern sinnvoll, als das Verfassen von Lyrics noch nie zu den Stärken Dudas gehörte. Über den Sinn eines Konzeptalbums ohne Songtexte darf dennoch debattiert werden.

Der beste Track des Albums, "Fake Me Deep, Murf", drosselt das Tempo. Die geschmackvollen Synthieklänge erinnern an die Elektropioniere Tangerine Dream. Später wird noch – wie bereits im Opener – eine Drum'n'Bass- und eine Gitarren-Tonspur eingefügt. Und doch klingt alles nicht halb so verworren wie noch zwei Songs zuvor, da die Synthies bis zum Ende des Songs präsent bleiben. Ein schönes Lied für den After-Club-Spaziergang.

Und dann? Kann sich "Bots' Party" – repräsentativ für das Album in seiner Gesamtheit – nicht so recht entscheiden, ob es lieber ein Track für den After-Club-Spaziergang oder einer für die Tanzfläche der Düsterdisco wäre, verhunzt Vocodergejaule den sehr angenehm beginnenden Chillout-Track "I Love To Chat With You" und changiert "Why So Serious, Cassandra?" unentschlossen zwischen potentiellem Horrorfilmsoundtrack und tanzbarem sphärischem Track. "Embracing The Unknown" schließt das Album ab, wie es begann: Zu viele Tonspuren werden im Laufe des Tracks übereinandergelegt, alles zerfranst. Ein Keyboard und Drums leiten den Song unspektakulär, aber schön ein, bevor nach dreieinhalb Minuten ein Stampfbeat einsetzt und Duda abermals – wahrscheinlich das Trademark des Albums – eine Vocoderstimme undefinierbare Worte runterrattern lässt, ehe Gitarrist Owczarek im Outro ausgiebig gniedelt. Ist das Progressive Electronica? Egal! Songs wie dem Albumcloser fehlt es an Struktur.

Bei aller Kritik am Songwriting: "AFR AI D" ist fantastisch produziert – so wie man es aus dem Hause Kscope kennt. "Good Morning Fearmongering", "Fake Me Deep, Murf" oder auch das angenehm stringente "Mid Journey To Freedom" mit seinem Marimbasound-Keyboard sollte man mit hochwertigen Kopfhörern lauschen.

Nicht immer ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Auf seinem – aufgrund der überwiegenden musikalischen Ausrichtung erfreulich mutigen – vierten Soloalbum zeigt Mariusz Duda gute Ansätze in fast allen Tracks, lässt aber zu viele Songs zerfasern, indem er zu viele Tonspuren nutzt und die Geschwindigkeit zu häufig unvermittelt hebt, um sie dann wieder zu drosseln.

Dass Duda sehr gelungene Ambienttracks erschaffen kann, bewies er insbesondere auf den ersten Lunatic-Soul-Alben zur Genüge. Mit "Fake Me Deep, Murf" tut er dies erneut. Viel wichtiger: All denjenigen, die ihm keinen guten Uptempo-Eletronica-Track zugetraut haben, belehrt er nun mit "Good Morning Fearmongering" eines Besseren.

Auf Albumlänge bleibt diese neue musikalische Seite des Tausendsassas jedoch ein uneingelöstes Versprechen. Duda fiel die Entscheidung, ob "AFR AI D" lieber im Club oder auf dem gemächlichen After-Club-Spaziergang gehört werden sollte, hörbar schwer. Mit noch ein bisschen mehr Mut (und Scheuklappen gegenüber snobistischen Prog-Rock-Puristen, die einem Künstler keine neuen Wege zugestehen) wird Duda der Verbleib im Club auf dem nächsten Soloalbum leichter fallen.

Trackliste

  1. 1. Taming Nightmares
  2. 2. Good Morning Fearmongering
  3. 3. Fake Me Deep, Murf
  4. 4. Bots' Party
  5. 5. I Love To Chat With You
  6. 6. Why So Serious, Cassandra?
  7. 7. Mid Journey To Freedom
  8. 8. Embracing The Unknown

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1 Kommentar

  • Vor einem Jahr

    An Musikgeschmack scheiden sich ja bekanntlich die Geister. Ich finde die Scheibe großartig, vor allem für die aktuelle Jahreszeit. Das, was der Rezensent als "zerfasert" wahrnimmt, betitelt die Gen Z (glaube ich) als "Vibe" - und den fühlt man oder man fühlt ihn nicht. Für mich funktioniert das alles fantastisch und ist vollgepackt mit kreativen Ideen, die ein mehrmaliges Hören belohnen. 5/5
    (Wie geil ist bitte dieses 'Bots' Party'-Solo?!)