laut.de-Kritik

Deutschpop macht allergisch, aber dieser "Baum" verspricht Heilung.

Review von

Mine ist cool. Darauf hat man sich irgendwie geeinigt. Das ist insofern beachtlich, weil die Musik der meisten anderen Vertreter ihrer Zunft, dem Deutschpop, als besonders verachtenswert und abscheulich angesehen wird. An diesem Ruf haben etliche dieser Vertreter jahrelang sehr erfolgreich gearbeitet. Wir tun es Mine in diesem Fall gleich und benennen sie lieber nicht beim Namen. Auch Mine teilt auf ihrem neuen Album gegen ihre nicht namentlich genannte Konkurrenz aus, was ihr allerdings nicht besonders gut zu Gesicht steht, doch dazu später mehr.

Mine macht nun schon fünf Solo-Alben lang Musik, die sich wie Kunst anfühlt und nicht wie ein Produkt. Sie hat ein Händchen für wunderschöne Melodien und setzt diese abwechslungreich - mal orchestral, mal brachial, mal zuckersüß - in Szene. Wer noch nichts von ihr gehört hat, ist unterbewusst spätestens durch Danger Dans 2021er Hit "Das Ist Alles Von Der Kunstfreiheit Gedeckt" mit ihr in Kontakt geraten, an dessen Komposition sie mitgewirkt hat. Seitdem blieb es bis auf vereinzelte Features ruhig um die Sängerin: Die Geburt ihrer Zwillinge wird daran sicher ihren Anteil gehabt haben.

Nachdem auf ihrem letzten Soloalbum damals alles "Hinüber" war, ist aus der Asche nun ein "Baum" gewachsen: "Alles war Asche, dem Erdboben gleich, jetzt kann es wachsen, weil ich, weil ich weiß / All diese Bilder in meinem Gesicht, ich lass sie gehen, sie haben kein Gewicht", singt sie im Intro. Wer sich vergewissern will, dass sich Mine von anderen Deutschpop-Artists abhebt, muss nur drei Minuten und acht Sekunden dranbleiben, denn ein solch monumentales Outro samt Streichern und Bläsern ist äußerst selten in diesem Genre.

Mit der darauffolgenden Ballade "Ich Weiß Es Nicht" hält die in Stuttgart geborene Sängerin das hohe Niveau aufrecht: Die Streicher dürfen ihre Instrumente gleich in der Hand behalten. Getragen wird das Stück von einer Klaviermelodie. Gepaart mit dem Text, der sich mit zahlreichen Fragen beschäftigt (nach dem Leben nach dem Tod, wie man das Wichtige von Unwichtigen unterscheidet und sein Innerstes besiegt), ergibt sich hier eine große Portion Melodramatik, die aber dank Mines fast schon sachlichem Vortrag keineswegs übertrieben wirkt. Falls es Zweifel an Mines Beteiligung an Danger Dans gefeiertem letzten Album gab, sollten diese angesichts dieser Produktion beseitigt sein.

Der Stimmungswechsel von "Ich Weiß Es Nicht" zu "Nichts Ist Umsonst" könnte drastischer kaum ausfallen, lässt sich der Sängerin hier gar ein Ausflug in den Hyperpop attestieren. Sämtlicher Schwermut weicht spielerischer Leichtigkeit. Der zweieinhalbminütige Ausflug gelingt. Stößt man in einer Tracklist auf ein "Intro", "Outro" oder "Reprise", dann lässt das darauf schließen, dass es zumindest den Versuch gab, tatsächlich ein Album zu produzieren und nicht nur eine Ansammlung von Tracks. Hier finden sich gleich mehrere davon. Das Schöne ist, dass sie alle ihre Daseinsberechtigung und einen Mehrwert aufweisen. So nimmt "Nichts Ist Umsonst - Reprise" Motive aus dem vorherigen Stück auf, das "Danke Gut - Intro" wartet gleich mit einem ganzen Kammerchor und dementsprechend erfrischenden Harmonien auf. Ein weiterer Chor, in diesem Fall der Kieler Knabenchor, wurde für das "Schattig - Intro" engagiert und auch dieser erfüllt seinen dramaturgischen Zweck erfolgreich.

Viele dieser Intermezzi wirken angesichts der Kürze "nur" wie erfrischende Impulse, und mit einer knappen halben Stunde ist der "Baum" generell recht kurz geraten. Das ist bei Stücken wie "Spiegel" oder "Weiter Gerannt" vielleicht sogar schade, hätte man diese bestimmt ohne qualitativen Verlust noch länger weiterspinnen können. Die Ausnahme bildet hier das überflüssige "Copycat", ein eher missglückter Versuch, in Hayiti-Gefilde abzudriften und glechzeitig Ideenklau in der Musikszene anzuprangern: "Sag deinen Namen nicht, nicht weil ich keinen Mut hab / Sondern weil du selber weißt, was du zu tun hast" - schade eigentlich, vielleicht wäre so ein Beef im Deutschpop genau das, was das Genre braucht?

"Das Leben ist hart" ("Schattig"), so lautet eine Erkenntnis, die Mine auf diesem Album gewonnen hat. Kein Wunder bei der Schwere der Themen, mit denen sich Mine beschäftigt hat. Der Tod spielt auf "Staub" erneut eine Rolle: "Mama, jetzt bist du Staub / Ich wünschte, ich hätt' an irgendwas geglaubt", klagt sie im Refrain und auf so authentische Weise persönlich, verletztlich und zerbrechlich klingen deutsche Texte selten - auch, wenn es laut eigener Aussage auf dem direkt darauffolgenden Track nichts gibt, was sie zerbrechen könne ("Stein").

Musikalisch fällt die zweite Hälfte des Albums gegenüber der ersten etwas ab, auch wenn es auch hier mit dem nach 80s-Funk klingenden "Fesch" und dem Outro "Weiter Gerannt" schöne Ausnahmen gibt. Outros werden ja gerne mal sträflich vernachlässigt, denn wer hat schon genug Zeit, um ein Album von vorne bis hinten anzuhören. Doch wer hier zu früh abschaltet, verpasst was: Es hätte nicht weiter verwundert, wenn dort in den Credits statt Mines langjährigen Wegbegleiter und Produzenten Marcus Wüst ein Name wie Four Tet vermerkt gewesen wäre, so genial wie diese Synth-Untermalung klingt.

Auf deutschsprachige Popmusik reagieren viele allergisch, doch Mine könnte ein Heilmittel sein. Naja, ein Heilmittel wird es für diese Krankheit so schnell nicht geben. Aber dieser "Baum" ist zumindest kein Allergieauslöser. Versucht es selbst.

Trackliste

  1. 1. Baum
  2. 2. Ich Weiß Es Nicht
  3. 3. Nichts Ist Umsonst
  4. 4. Nichts Ist Umsonst - Reprise
  5. 5. Danke Gut - Intro
  6. 6. Danke Gut
  7. 7. Spiegel
  8. 8. Schattig - Intro
  9. 9. Schattig
  10. 10. Staub
  11. 11. Stein
  12. 12. Copycat
  13. 13. Fesch
  14. 14. Baum - Reprise
  15. 15. Weiter Gerannt

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