laut.de-Kritik

Die rezeptfreie Schmerztherapie.

Review von

Durch komplizierte Algorithmen machen es uns Download- und Streaming-Anbieter wie Spotify und Apple es so einfach wie nie, Musik zu entdecken, die auf unseren Geschmack passt. Es braucht kein Kumpel mehr mit einem handbeschriebenen Mixtape vorbeischauen. Wir klicken uns stattdessen durch eine endlose Zahl an Vorschlägen mit 'ähnlichen Künstlern', die der Algorithmus anhand der Songlänge, Geschwindigkeit, Tonart, Tags mit Musikrichtungen und vielen anderen Faktoren errechnet. So hüpfen wir von einer Post-Punk-Indie-Band zur nächsten und fühlen uns pudelwohl in unserer musikalischen Monokultur. Nur eine Gruppe scheint dem ausgefeilten Verfahren die Einsen und Nullen um die Ohren zu hauen: Morphine.

"String Bass, Saxophone and Drums? What the fuck is that?" Josh Homme bringt es in der Dokumentation "Cure for Pain: The Mark Sandman Story" auf den Punkt. Kaum einer konnte sich vor Morphine vorstellen, dass die Kombination aus zweisaitigem Slide-Bass, Bariton-Saxophon und Schlagzeug einen derart umwerfenden Klang erreicht, wie ihn die Band von Mark Sandman produzierte. Nie zuvor besaß eine Formation diesen herausstechenden, einzigartigen Sound. Und nach dem Ende von Morphine sollte auch keine Band mehr in die Nähe davon kommen. Deswegen versagen alle Algorithmen: Sie durchforsten riesige Datenbanken ohne Aussicht auf Erfolg, auch nur eine halbwegs ähnliche Band zu finden.

Was auf "Good" noch als Blaupause für ihren bassgetränkten Lowrock diente, hieften Mark Sandman (Gesang/Bass), Dana Colley (Bariton-Saxophon) und Billy Conway (Drums) 1993 mit "Cure For Pain" zu einem Destillat aus Jazz, Alternative und zurückgelehnter Coolness hinauf. Auf "Play" zu drücken kommt bei diesem Album einem lässigen Münzwurf in den Schlitz einer Jukebox gleich, die in einer schummrigen Pool-Bar steht. Im ersten Instrumentaltrack "Dawna" lässt Dana Colley sein Saxophon im Raum schweben, ehe "Buena" beginnt und Mark Sandman mit seinem Bass tiefe Furchen in die klirrende Atmosphäre reißt. Dieser wahnsinnige Basslauf versprüht den Drang, sich auch bei Nacht eine Sonnenbrille aufzusetzen und gehört zu den Besten seiner Art.

Mark Sandman brachte sich den Bass autodidaktisch auf einer Saite bei, bis er sich schließlich die Extravaganz einer zweiten gönnte. Für ihn war diese fast nur schmückendes Beiwerk, da er auf einer Saite eh schon alle benötigten Noten greifen konnte. Und wie er das tat: Bass-Größen wie Les Claypool ziehen heute noch den Hut vor dem eigenwilligen Spielstil Sandmans.

Durch die fehlende Gitarre blieb der Bass immer eine der herausragendsten Komponenten des Morphine-Sounds. Doch die hypnotische Tiefe schaffte vor allem Dana Colleys Bariton-Saxophon, das einen warmen Mantel um das Soundgerüst des Trios legt. Colley arbeitete vor Morphine als Roadie bei Mark Sandmans früherer Band Treat Her Right, als Sandman auf sein Saxophon-Spiel aufmerksam wurde. Der voluminöse Klang des Holzblasinstruments verschanzt sich noch während der ersten Strophe von "Buena", um dann im Refrain gewaltig auf den Song hereinzubrechen. Die Macher von "The Sopranos" erkannten die enorme Qualität des Stückes und verwendeten "Buena" in der ersten Staffel der Mafia-Serie.

Colleys Saxophon-Spiel beschränkt sich keinesfalls auf brachiale Exzesse und quietschende Soli: Im Song "I'm Free Now" schmiegt sich sein Instrument liebevoll an Sandmans treibenden Bass und liefert ein gutes Beispiel dafür, warum der Klang dieser ungewöhnlichen Konstellation zündet. Im Chorus verschmelzen Colleys Saxophon und Sandmans Gesang beinahe zu einem einzigen gefühlvollen Ton. "I got guilt, I got fear, I got regret / I'm just a panic-stricken waste / I'm such a jerk", singt Sandman im aufwühlenden Höhepunkt des Liedes.

"Cure For Pain" beinhaltet neben aller Lässigkeit eine große Portion Melancholie und Schmerz. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen lagen zahlreiche Schicksalsschläge hinter Mark Sandman, dessen jüngere Brüder Roger und Jon früh verstarben. Er selbst fiel einem Überfall zum Opfer, als er einen Nebenjob als Taxifahrer ausübte. Von der Messerattacke trug Sandman schwere Verletzungen davon, die auch seine Hauptschlagader beschädigt haben könnten.

Auf "Cure For Pain" schwingt diese Zerbrechlichkeit in jeder Tonfolge mit. Im Titeltrack fleht Sandman: "Someday there'll be a cure for pain / That's the day I throw my drugs away / When they find a cure for pain". Der Frontmann croont seinen Hilferuf zum schweren Saxophon und entlässt den Song trotz aller Bitterkeit in ein positives Ende. Am Schluss steht die hohe Note, die Heilung wird schon noch kommen. Morphine bezieht Sandman nicht auf die Droge Morphium, sondern auf Morpheus, den griechischen Gott der Träume. Es soll keine Betäubung geben, sondern Hoffnung auf bessere Zeiten.

Neben diesem Ausrufezeichen des Albums klingt "In Spite Of Me" schon beinahe schüchtern, markiert aber dennoch einen weiteren Höhepunkt. Ohne Backup von Saxophon und Schlagzeug wirkt Mark hier so intim wie auf keinem anderen Song der Band. Ausnahmsweise kommt eine Gitarre zum Einsatz, zu der Sandman fast flüsternd seine Gefühle offenbart: "Late last night I saw you in my living room / You seemed so close but yet so cold / For a long time I thought that / You'd be coming back to me / Those kind of thoughts can be so cruel". Eine bittersüße Verschnaufpause, bevor "Thursday" erneut alle Geschütze auffährt und den idealen Soundtrack zur Kneipenschlägerei liefert.

Der Heilungsprozess endet schließlich wie er begann: mit einem Instrumental. "Miles Davis' Funeral" verabschiedet das Album mit einer Western-Gitarre und sanften Percussions aus dem Hospital. Als Nachbehandlung empfiehlt sich, noch eine Münze in die Jukebox zu werfen.

Am 3. Juli 1999 bricht Mark Sandman auf der Bühne eines mehrtägigen Festivals bei den Giardini del Principe in Palestrina, Italien, zusammen. Er stirbt mit 47 Jahren an einem Herzinfarkt. Am nächsten Tag stand der Auftritt der Queens Of The Stone Age an und Josh Homme fragte Dana Colley, ob sie spielen sollen. Colley sagte "keep rocking" und hörte sich die Queens von seinem Hotelzimmer an. Später sagte er: "This is the best fucking music I've ever heard in my life." Dieses Kompliment passt ebenso auf den einzigartigen Sound von Morphine. Mark Sandman und sein ikonisches Bassspiel fehlen, doch sein unverwechselbarer Stempel auf der Musikwelt bleibt.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Dawna
  2. 2. Buena
  3. 3. I'm Free Now
  4. 4. All Wrong
  5. 5. Candy
  6. 6. A Head With Wings
  7. 7. In Spite Of Me
  8. 8. Thursday
  9. 9. Cure For Pain
  10. 10. Mary Won't You Call My Name?
  11. 11. Let's Take A Trip Together
  12. 12. Sheila
  13. 13. Miles Davis' Funeral

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