laut.de-Kritik

Von Hand gestrickt, intim und sehr persönlich.

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Ihren größten Hit feierten 10,000 Maniacs 1993, nachdem ihre Sängerin Natalie Merchant überraschend bekannt gegeben hatte, sie werde aussteigen. Zum Abschied genehmigte sich die Band aus Upstate New York einen Auftritt bei MTV Unplugged und landete mit ihrer Coverversion von "Because The Night", das Bruce Springsteen 1977 mit Patti Smith geschrieben hatte, ihre höchste Platzierung in den US-Charts.

Beste Voraussetzungen für Merchant also, um auch solo durchzustarten. Doch statt mit einem Topproduzenten die Gunst der Stunde zu nutzen, zog sie sich zurück und machte es sich erst einmal in ihrem Haus auf dem Land gemütlich.

1981 war sie, damals gerade 17, in die Band eingestiegen. Nach endlosem Touren und drei Alben hatten die Maniacs 1989 endlich den Durchbruch geschafft. Mit "Blind Man's Zoo" und "Our Time In Eden" (1992) machten sie R.E.M. den Posten der ernsthaftesten Indie-Band streitig. Spätestens, als der Rolling Stone in seiner Märzausgabe 1993 Merchant auf dem Titelblatt abbildete, stieg sie zum Pin-Up-Girl sinnsuchender Spätpubertierender und Studenten auf.

So sehr sie das Liederschreiben und die Auftritte genoss, so sehr war ihr die öffentliche Aufmerksamkeit zuwider. 1989 hatte sie sich ein Jahr lang abgemeldet und Musikunterricht in einer Einrichtung für sozial benachteiligte Kinder gegeben. Ruhm, Geld und Eitelkeit lagen ihr nicht. Lieber nutzte sie ihre Bekanntheit, um auf Missstände aufmerksam zu machen.

In der Geborgenheit ihres Zuhauses, weit entfernt vom großen, lauten New York, begann sie schließlich doch mit den Arbeiten an ihrem Solodebüt. Sie lud befreundete Musiker ein, holte sich professionelles Studioequipment und bemühte sich, eine entspannte wie kreative Atmosphäre zu schaffen. Eine Vorgehensweise, die sie für die meisten ihrer folgenden Alben beibehalten soll.

Ihr Label Elektra reagierte natürlich wenig begeistert, doch Merchant blieb hartnäckig und ließ sich nicht reinreden. Um ihre Unabhängigkeit zu unterstreichen, finanzierte und produzierte sie die Aufnahmen selbst.

Der bekannteste Mitmusiker war Peter Yanowitz, Schlagzeuger der Wallflowers und bald ihr Freund. Als Geniestreich erwies sich jedoch die Verpflichtung von Gitarristin Jennifer Turner. Blutjung und spindeldürr, lockerte sie mit ihren Einlagen erst das Album auf und sorgte später mit ihrer roten Mähne auf Tour für Furore.

Am wichtigsten blieb jedoch Merchant selbst. Ihre durchdachten Texte handeln oft von den dunklen Seiten des Daseins und spenden dennoch Trost. Ihre warme, ruhige, emotionale, tiefe, nie banale Stimme klingt hier vielleicht noch etwas unsicher, strahlt dafür aber um so mehr Charme aus.

Entspannt und ernsthaft, so die Stimmung, die das Album verbreitet. Die geologische Verwerfung, die mit einem verheerenden Erdbeben halb Kalifornien zu zerstören droht, dient Merchant als Symbol für das harte Leben in Los Angeles und im Entertainment-Business. "Your future bright, beyond compare / it's rags to riches, over there", so der Schein. In Wirklichkeit lauert die Katastrophe hinter jeder Ecke.

Zu "Beloved Wife" inspirierten sie ihre Großeltern, die im Abstand von einer Woche nacheinander gestorben waren, weil sie so etwas wie eine Einheit bildeten. In "River" verurteilte sie die die Pressehetze, die nach dem dramatischen Tod des Schauspielers River Phoenix eingesetzt hatte.

"The Letter" erinnert an die schönen Momente einer beendeten Beziehung, "Cowboy Romance" ("It's a Saturday afternoon romance between a cowboy and a fool") war ihre Version eines Abenteuers im Stil von Bob Dylans "Durango".

In "Jealousy" ließ sie sich sogar zu einem eher fröhlichen Stück hinreißen, in "Where I Go" beschrieb sie ihren Lieblingsrückzugsort am Fluss Hudson, "to soothe my mind, to ponder over / the crazy days of my life / just sit and watch the river flow", bevor sie sich in "Seven Years" wieder mit einem schwierigen Thema befasset, nämlich der verletzten Seele einer verliebten, betrogenen Frau.

"I May Know the Word", das unmittelbar nach Merchants Entscheidung entstand, die Maniacs zu verlassen, passt nicht so richtig zum Rest. Jonathan Demme hatte sie gebeten, ein Lied für seinen späteren Kassenschlager "Philadelphia" zu schreiben. Dass es nicht zu ihren besten gehört, zeigt sich auch daran, dass er es schließlich doch nicht verwendete. Doch hatte Merchant mit den Zeilen "I may know the way / To comfort and to soothe" schon verstanden, in welche Richtung ihre Solokarriere gehen würde.

Zwei Stücke ragen aus dem Album heraus. Mit "Wonder" schuf sie eine Hymne für Menschen, die körperlich oder seelisch nicht der Norm entsprechen. "People see me / I'm a challenge to your balance / I'm over your heads / how I confound you and astound you / to know I must be one of the wonders of god's own creation / and as far as you can see you can offer me / no explanation", so Merchant. Das Leben ist etwas Wundersames und letztlich Unerklärliches. Jeder hat das Recht, es so gut wie möglich zu leben, so die Botschaft.

Mit dem zweiten, "Carnival", landete sie in den Top Ten. Im funkingen Stück beschreibt Merchant das New Yorker Leben als buntes Faschingstreiben. Für sie ist es der Beweis, dass Songs ein eigenes Leben entwickeln und ihre Schöpfer nicht nur überleben, sondern auch in eine Zwickmühle bringen können.

Der Regisseur Nick Broomfield kontaktierte Merchant 2002, weil er das Stück im Abspann seines Dokumentarfilms über die hingerichtete Serienmörderin Aileen Vuornos verwenden wollte. Merchant wiegelte ab, bis sie erfuhr, dass Vuornos im Todestrakt ständig "Tigerlily" gehört und sich "Carnival" für ihre Beerdigung gewünscht hatte. "Es hat mich überrascht, welche Wege meine Musik gehen kann. Wenn sie ihr Trost gespendet hat, kann ich dafür nur dankbar sein", sagte Merchant später.

"Tigerlily" erschien 1995 und wurde mit weltweit fünf bis sechs Millionen verkauften Exemplaren zum erfolgreichsten Album in Merchants Karriere. Mit "Ophelia" landete sie 1998 ebenfalls in den Top Ten der US-Charts, ein Livealbum schloss 1999 die erste Phase ihrer Solokarriere ab. Die im neuen Jahrtausend bewusst abseits des Mainstreams weitere eindrucksvolle Alben hervorgebracht hat, allen voran ihre Vertonung von Kindergedichten mit dem Titel "Leave Your Sleep" von 2010.

Dass ihr Debüt dennoch einen besonderen Stellenwert besitzt, zeigt sich daran, dass Merchant es 2015 mit dem Titel "Paradise Is There" noch einmal aufgenommen hat. "Es war von Hand gestrickt, intim und sehr persönlich. Ich war auf der Suche nach mir selbst und man hört, dass sich im Raum etwas Magisches befindet. Das war es wahrscheinlich, was den Zuhörern so gefallen hat", erklärt sie im Dokumentarfilm, den sie dazu gedreht hat.

"'Tigerlily' ist mein wichtigstes Album. Es hat mich als Songwriterin definiert und jene sinnliche Beziehung zu meinem Publikum hergestellt, die bis heute anhält", so Merchant weiter. Eine Erfahrung, die man noch immer machen kann, bei einem ihrer leider selten gewordenen Auftritte.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. San Andreas Fault
  2. 2. Wonder
  3. 3. Beloved Wife
  4. 4. River
  5. 5. Carnival
  6. 6. I May Know The Word
  7. 7. The Letter
  8. 8. Cowboy Romance
  9. 9. Jealous
  10. 10. Where I Go
  11. 11. Seven Years

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