laut.de-Kritik

"Blue Monday" peitschte sie in die Arme des Synthie-Pop.

Review von

Es besteht kein Zweifel, dass New Order ihre besten Platten aufgenommen haben, als sie sich noch nicht von Robbie Williams-Fans ausbuhen ließen und noch kein Bandmitglied die Karriere-Strapazen mit einem Reha-Aufenthalt bezahlen musste. Sie sind in den 80er Jahren erschienen, als sich durch den Kontinent der Eiserne Vorhang zog. Selbst New Order hatten seinerzeit einen solchen installiert: Statt Städte und Länder trennte er ihr musikalisches Oeuvre von jenem der Vorgängerband Joy Division.

Der Freitod von Sänger Ian Curtis beendete 1980 den erfolgsversprechenden Beginn der jungen Band aus Manchester abrupt und dementsprechend verwirrt klang auch der Neuanfang im Folgejahr, das New Order-Debüt "Movement". Doch schon mit "Power Corruption & Lies" beschritt das Quartett 1983 neue musikalische Wege und vermählte den alten Bastard Indie Rock noch etwas fahrig mit der neuen Versuchung in Gestalt des Bass-Synthesizers TB 303 und des Samplers Emulator II, den man mit 3,5-Zoll-Floppy-Disks füttern musste. Kaum vorstellbar, dass die visionäre Dance-Granate "Blue Monday" in einer solch vorsintflutlichen Ära zum Leben erwachte.

"Low-Life" ist das Elektropop-Album ihres Bandkatalogs. 1985 suchten New Order noch immer nach einem neuen Sound für eine neue Welt und nicht zuletzt auch für sich selbst. Trotz einiger erfolgreicher Singles wurden Sänger Bernard Sumner, Bassist Peter Hook, Drummer Stephen Morris und Keyboarderin Gillian Gilbert in fast jedem Interview auf ihre Ex-Band angesprochen.

Selbst die Nähe der Bandnamen Joy Division und New Order zur Nazi-Terminologie versprach in ihrer Heimat immer wieder Schlagzeilen, bis der des Themas überdrüssige Sumner nachdrücklich polterte: "Der Name 'New Order' findet auch in 'Tron' Erwähnung, aber kein Mensch nennt Walt Disney einen Nazi".

"Low Life" geht den eingeschlagenen Weg der fortscheitenden Sound-Technologisierung unbeirrt weiter und ist in seiner lebensbejahenden Ausrichtung die Antipode zu "Closer". Sumners inzwischen wohl geformte Sensibilität für nachhaltige Melodien in Kombination mit einer unverklausulierten Begeisterung für straighte Pop-Hymnen entsendete Sonnenstrahlen en masse, von denen sich miesepetrige Ian Curtis-Apologeten entsetzt abwendeten.

Scheinbar mühelos gelingt New Order hier die Fusion zwischen aufbrausendem Indie-Rock und schimmerndem Dance-Pop, der im Chartsgefüge des Jahres 1985 zwischen Wham!, Simple Minds und Duran Duran dennoch klar im Underground verortet ist. Noch vor den ebenfalls auf Indie-Labels veröffentlichenden The Cure und Depeche Mode knacken New Order mit "Low-Life" den amerikanischen Massenmarkt.

So begnügt sich die Single "A Perfect Kiss" nicht mehr mit einem staubtrockenen Giorgio Moroder-Bass wie "Blue Monday", sondern schickt den peitschenden Sequencer mit Disco-Claps und Cowbell wissentlich in Gillian Gilberts opulente Keyboard-Dämmerung. Trotz klirrender 80s-Produktion eine Synthie-Pop-Blaupause, derer sich etliche Epigonen bedienen sollten.

Sumners Text fällt zwar vergleichsweise unkryptisch aus, das Teilschuldgeständnis an Curtis' Tod oder wenigstens dessen Aufarbeitung ließ der Sänger stets ebenso unkommentiert wie die Deutung eines Kommentars zur grassierenden Aids-Epidemie. Derweil fühlten sich New Order im Angesicht ihrer strengen Indie-Sozialisation locker genug, erstmals Bandfotos fürs Cover abzusegnen – zur großen Freude ihres neuen US-Labels Qwest von Quincy Jones.

Doch natürlich hatte Haus-Designer Peter Saville, Vater der heute legendären, ausgestanzten "Blue Monday"-Floppy-Disk-Papphülle ohne Aufschrift, weiterhin nur Kunst im Sinn. Er steckte vier schwarzweiße Portrait-Polaroids, auf denen er die Bandmitglieder an der Kamera vorbeiblicken ließ, hinter eine dünne Folie mit Milchglaseffekt, verteilte die Bilder auf die Seiten des Vinyl-Aufklappcovers und setzte Drummer Morris aufs Frontcover. Ein Akt der Verweigerung in Zeiten, in denen Konkurrenten stets nur in kompletter Bandbesetzung und gerne in wallender Ballonseide posierten.

"Uns war es immer wichtiger, Spaß zu haben, als einen konkreten Karriereplan zu verfolgen. Genau genommen lautete unser konkreter Karriereplan: Spaß haben", erklärte Sumner. Auch der lange defizitäre Hacienda Club, den New Order als Teilhaber mit enormen Summen finanzierten, folgte diesem blauäugigen Grundprinzip.

Dieser jugendliche Optimismus prägt auch "Low-Life": Die Verheißung einer güldenen Zukunft gelingt schon dem Opener "Love Vigilantes", der völlig unglamourös mit vier Snaredrum-Schlägen beginnt und dann auch noch eine Melodica ins Melodie-Zentrum stellt. "Sunrise" breitet zunächst einen schattig-wabernden Synthiesound à la "Atmosphere" aus, bevor Hooky eine seiner goldenen Basslinien loslässt und den Counterpart zum Synthie-Gewitter darstellt - ein Rezept, das auch 16 Jahre später auf "Get Ready" noch hervorragend funktionierte.

"Sie waren experimentell, sehr elektronisch und im selben Moment kraftvoll und emotional wie die Doors und Velvet Underground", tastete sich Primal Screams Bobby Gillespie einst an einen Erklärungsversuch für die Faszination dieses Sounds heran und dachte dabei sicher auch an Stücke wie "Elegia": Ein rauschhaft-meditatives Klangerlebnis, wie es wohl nur in einer Ecstasy-Nacht von 24 Hour Party People erdacht werden kann.

Am Albumende hämmern die Sequencerbeats von "Sub-Culture" den zweiten Klassikerpflock in den Boden und geleiten in einen hochdramatischen Refrain, dessen Melodie es bis zum Klingelton von Mark Lanegans Handy gebracht hat. Was ich als Auszeichnung mal so stehen lassen möchte.

Heute treffen sich Hook und der Rest von New Order nur noch vor Gericht, was dem Albumtitel eine neue, traurige Bedeutung verleiht. Doch ähnlich wie bei der anderen Manchester-Indie-Legende der 80er, den Smiths, ist das Kapitel um ihre musikalischen Verdienste bereits geschrieben.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Love Vigilantes
  2. 2. The Perfect Kiss
  3. 3. This Time Of Night
  4. 4. Sunrise
  5. 5. Elegia
  6. 6. Sooner Than You Think
  7. 7. Sub-Culture
  8. 8. Face Up

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