Sex, Drugs, Rock'n'Roll und Mutterstolz: Eine beeindruckend zähe Frau erzählt ihr Leben - soweit sie sich eben erinnern kann.

München (dani) - Hatte einen Welthit mit "Nothing Compares 2 You". Hat einst vor laufenden Kameras ein Bild des Papstes zerrissen und damit ihre Karriere an die Wand gefahren. Hat nicht alle Latten am Zaun. Darin erschöpft sich das "Wissen" der meisten Zeitgenoss*innen bezüglich Sinéad O'Connor auch schon. Bei mir verhielt sich das nicht anders - bis zur Lektüre von "Erinnerungen" (riva Verlag, 251 Seiten, Hardcover, 20 Euro). Seitdem bin ich ein bisschen verliebt.

Der zunächst wenig originell anmutende Titel passt tatsächlich: Die irische Sängerin hält in diesem Buch ihr Leben fest - soweit sie sich eben erinnert. Ganze Lebensabschnitte lässt O'Connor unter den Tisch fallen. Die Zeit zwischen 1992 (das Jahr des Papstbild-Vorfalls) und 2015 fehlt nahezu komplett - wer liest, erfährt, warum. Die beiden folgenden Jahre habe Sinéad O'Connor, schreibt sie, gebraucht, um sich von einer Operation und einem darauffolgenden völligen psychischen Zusammenbruch zu erholen.

Wieder einmal sorgt Peter Peschke für eine Übersetzung ins Deutsche. Die gelingt smooth und trifft den Ton so einfühlsam, dass einem in weiten Teilen überhaupt nicht auffällt, dass man gerade nicht den Original-Text der Autorin liest.

Eine geschundene Kinderseele

Viele, zweifellos traumatisierende Themen (wie zum Beispiel mehrere erlittene Fehlgeburten) streift Sinéad O'Connor nur leicht. Den fortgesetzten Missbrauch seitens ihrer selbst psychisch kranken Mutter bringt sie zwar zur Sprache, ohne jedoch allzu sehr ins Detail zu gehen. Das ist auch gar nicht nötig: Auch mit kurzen Episoden und Andeutungen zeichnet sie schon ein erschütterndes, herzzerreißendes Bild des Martyriums einer geschundenen Kinderseele.

"Ein Haufen Angsthasen"

Die Umstände, unter denen Sinéad und ihre drei Geschwister aufwachsen mussten, erklären viele ihrer späteren Handlungen und Entscheidungen. Ohne Hintergrundwissen erscheinen viele Aktionen einfach nur durchgeknallt. Liest man dagegen ihr Buch und bekommt einen Kontext, entsteht ein gegenteiliger Eindruck: Sinéad O'Connor wirkt da wie eine zwar gebeutelte, aber irre starke Persönlichkeit, sympathisch, reflektiert, integer, jemand, der seine Überzeugung über den Profit stellt. Kurz: Sie kommt wie jemand rüber, der im gnadenlosen Haifischbecken der Musikindustrie absolut deplatziert und über kurz oder lang zum Untergang verdammt ist. Über ihren Auftritt bei der Grammyverleihung schreibt sie etwa:

"Die Leute, die in der Musikindustrie das Sagen haben, sind kein bisschen Punk. Sie sind ein Haufen Angsthasen. Aber sie haben vor der falschen Sache Angst - vor der Musik, nämlich. Deshalb gab es 1991 bei den Grammys eine Rap-Kategorie, die aber nicht im Fernsehen übertragen wurde. Also gab es einen Boykott der Rap-Community. Und deshalb hatte ich das Logo von Public Enemy faustgroß auf meine kurzrasierte linke Kopfseite auftragen lassen, damit man es im Fernsehen und überall auf der Welt würde sehen können."

Sieht man ihr Leben durch ihre Augen, erschließt sich auch die von außen betrachtet doch recht wirr anmutende Suche nach spiritueller Führung, die Sinéad O'Connor aus dem irischen Katholizismus über Abstecher in Esoterik, Rastafari-Religion und Kabbalah schließlich dem Islam zuführte. Was nach Eskapaden, Über- oder komplett unverständlichen Reaktionen aussah, wirkt, kennt man Auslöser und Absicht, nachvollziehbar, meist sogar ehrenwert.

Kein weinerliches Opfer

Sinéad O'Connor gelingt das Kunststück, selbst die unglaublichen Härten ihres Lebens, Missbrauch und Gewalt, ihre Hilf-, Rat- und Orientierungslosigkeit zu beschreiben, ohne sich selbst zum weinerlichen Opfer zu degradieren. Sie erzählt ihre Geschichte nüchtern, vollkommen frei von Verbitterung und ohne großes Bedauern. Selbst mit ihrer Mutter, die ihr als Kind übel mitgespielt hat, hadert sie nicht, sondern beschreibt sie liebe- und verständnisvoll. In einem angehängten Brief an den Vater spricht sie auch ihn von jeder Schuld an ihrem lädierten Zustand frei. Sinéad O'Connors "Erinnerungen" durchdringt von vorne bis hinten die heilende Macht, die in Vergebung stecken kann.

"Der alte Rüschenärmel"

Das vielleicht Paradoxeste an diesem Buch: Obwohl es stellenweise abgrundtief traurig ist, gehört es zum lustigsten, das ich seit langer Zeit lesen durfte. Sinéad O'Connor beschreibt sich, ihr Leben und ihre Sicht auf die Welt mit atemberaubenden Mengen Humor und Witz. Ihre (recht unerfreulich verlaufene) Begegnung mit einem Kollegen, zum Beispiel:

"Ich drehe mich um. Prince steht im Türrahmen. Der alte Rüschenärmel. Aufgetakelt wie ein Auffahrunfall. Sieht aus, als trüge er sämtliches Make-up, das jemals in das Gesicht von Boy George gepinselt worden ist. Sieht aus wie ich, als ich mit Jerome Kearns zu einem Schulball gegangen bin. 'Du musst Shine-Aid sein', sagt er. 'Und du musst Prance sein', antwortete ich."

Sinéad O'Connor, deren Name offenbar für so manche*n einen Zungenbrecher darstellt, berichtet darüber hinaus von Treffen mit Lou Reed (deutlich erfreulicher) oder Muhammad Ali (magisch), aber genau so herzlich auch von Zufallsbegegnungen mit verwirrten Nachbarinnen oder Obdachlosen. Sie erzählt Anekdoten zu jedem ihrer Alben, verrät Interna aus dem Musikgeschäft und dem Tourbus, erzählt von Affären, Erfolgen und Zusammenbrüchen - und sie schmiedet Zukunftspläne, die mit diesem ganzen Zirkus rein gar nichts zu tun haben.

Sex, Drugs, Rock'n'Roll und Mutterstolz

Sinéad O'Connors Leben drehte sich, das wissen wir spätestens jetzt, in weiten Teilen um Sex, Drugs und Rock'n'Roll. Es drehte sich aber auch, das noch wesentlich heftiger, um die vier Kinder, die sie ins Leben gebracht hat und die sie vor Mutterstolz schier bersten lassen. Die treffendste Beschreibung von sich liefert diese zähe, begnadete, beeindruckend großherzige Frau natürlich selbst:

"Ich bin kein Popstar. Ich bin nur eine Seele in Not, die ab und zu in ein Mikro schreien muss. Ich muss nicht die Nummer 1 sein. Ich muss nicht gemocht werden. Ich muss kein gern gesehener Gast bei den American Music Awards sein. Ich muss einfach nur in der Lage sein, meine jährlichen Unkosten zu decken und mir Mist von der Seele zu singen; ich will keine Kompromisse eingehen oder mich seelisch prostituieren müssen. Also, nein. Meine Karriere war nicht entgleist."

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