Schlimmer als "Layla"?
Mit einem in Neonbuchstaben blinkenden "HÄ?" möchte ich auch die folgende Meldung überschreiben, und, ja, ich bin mir der Gefahr durchaus bewusst, dass mich hinterher wieder zahllose Menschen per unfreundlicher Nachricht wissen lassen werden, was für ein unglaublich unsensibles, diskriminierendes Arschloch ich doch bin. Trotzdem:
Hä?
Am Samstag haben die Drunken Masters Das Fest in Karlsruhe gerockt - offensichtlich sehr zum Vergnügen der Anwesenden, wie die Badischen Neuesten Nachrichten berichten: "Mit einem wilden Mix durch alle Musikarten" habe das DJ-Duo bei der Veranstaltung "für ausgelassene Partystimmung" gesorgt. So weit, so schön.
Ausgerastet ist aber offenbar nicht nur die feiernde Meute, sondern auch Vertreter*innen des Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e.V. - zumindest diesem Tweet nach:
Schlimmer als das #Ballermann #Lied #Layla. Der beim #DasFest in #Karlruhe aufgeführten Beitrag "VIP in der #Psychiatrie". Wir schreiben einen offenen Brief an den Veranstalter und #OB #kiz #stigmatisierung #diskriminierung #drunkenmastershttps://t.co/a4ZYtDs8yu pic.twitter.com/ZXBesjOiLz
— LVPEBW (@lvpebw) July 24, 2022
"Schlimmer als 'Layla'" sei, dass die Drunken Masters "V.I.P. in der Psychiatrie" von K.I.Z. gespielt haben, das stigmatisiere und diskriminiere von psychischen Krankheiten betroffene Menschen. Den in dem Tweet angekündigten offenen Brief an die Veranstalter*innen hat LVPEBW-Vorständin Carina Kebbel inzwischen geschrieben, er ist hier einzusehen.
"Ich halte Grund- und Freiheitsrechte für ein wichtiges Rechtsgut und stehe Einschränkungen in diesem Bereich durchaus auch kritisch gegenüber", schreibt Frau Kebbel da. "Ein solches Lied - und insbesondere ein solches Video - dürften aber meines Erachtens nicht produziert und verbreitet werden."
Joah:
Ich will keine Zensur, aber ich will Zensur.
Och, Mensch. Können wir dieses Geschrei nach Verboten vielleicht einfach wieder ein bisschen zurückfahren? Es bringt doch wirklich gar nichts, außer Aufmerksamkeit auf genau das zu lenken, das man angeblich beseitigt zu haben wünscht. Kein Hahn hätte ohne die Hysterie um "Layla" außerhalb besoffener Bierzelt-Kontexte nach dieser sexistischen Ballermann-Kackscheiße gekräht. Inzwischen, Glückwunsch, kennt die Nummer wirklich jedes Kind, und irgendwelche hängengebliebenen Dullis fühlen sich noch mordsrebellisch, wenn sie den Scheiß trotzdem grölen.
"V.I.P. in der Psychiatrie" ist eineinhalb Jahre alt, und eigentlich hatte ich den Song schon vergessen. Denke, das dürfte den meisten ähnlich gehen. Klar reitet der, gerade im Zusammenspiel mit dem Video, Klischees im Dutzend. Offenbar fühlen sich Frau Kebbel und die Freundin, die sie in ihrem Brief zitiert, von dem K.I.Z.-Track verletzt, das tut mir tatsächlich leid. Ich finde nämlich nicht, dass man rumlaufen und mutwillig Menschen verletzten sollte.
Wie allerdings irgendeine Form von Überzeichnung, Zuspitzung, Satire, Ironie, wie Kunst überhaupt möglich sein soll, wenn man bei allem jederzeit jede denkbare Möglichkeit in Betracht ziehen muss, ob und wie sich jemand davon eventuell beleidigt, verletzt, diskriminiert, stigmatisiert fühlen könnte ... Es. Ist. Mir. Rätselhaft. Wo bleibt denn dann die Kunstfreiheit? Wo die Toleranz? Beides braucht man ja erst ab dem Punkt, an dem einem irgendetwas gegen den Strich geht, man es unangemessen, geschmacklos, verletzend oder aus anderen Gründen daneben findet.
Dass ein Bewusstsein für Empfindlichkeiten entsteht, finde ich gut. Dass mehr und mehr darüber gesprochen wird, was eine (meistens ja unbedachte) Äußerung, eine Songzeile, eine Darstellung in einem Video bei Betroffenen auslösen kann, ebenfalls. Man kapiert ja oft erst, was etwas anrichtet, wenn einem das jemand erklärt. Nach Verboten zu schreien, halte ich allerdings für einen komplett kontraproduktiven Weg. Zumal mir noch niemand sagen konnte, wer da wo welche Grenzen ziehen sollte.
Wie gesagt: Das soll kein Plädoyer für verletzende Äußerungen sein. Wohl aber eins für mehr Nehmerqualitäten auf allen Seiten und die offenbar komplett in Vergessenheit geratene Fähigkeit, einen Song, den man aus mehr oder weniger nachvollziehbaren Gründen scheiße findet, vielleicht auch einfach mal auszuhalten, statt ihm mit dem Ruf nach Verboten noch Gratis-Promo zu bescheren.
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