laut.de-Kritik

Melancholie und Herzschmerz in hektischen 166 BPM.

Review von

Wenn die Gatekeeper aus ihren Löchern kriechen und dir vorwerfen, du würdest ja gar keinen richtigen Punk, gar keinen richtigen Metal, gar keinen richtigen Grunge und keinen richtigen Humppa machen, stehen die Chancen nicht schlecht, dass du interessante Musik fabriziert hast und dich länger als der nächste Trend hältst. Letztlich lebt Musik doch davon, dass sie sich über Genregrenzen hinwegsetzt. In diesem Momenten entstehen die interessantesten Tracks. So ergeht es nun auch Nia Archives, Vorzeigeact des Jungle- und Drum'n'Bass-Revivals, die sich selbst als als "Emotional Junglist" bezeichnet.

In seinem ersten Durchgang in den 1990ern hielt sich das hektische Drum-Gejuckel nicht lange. Von Männern bestimmt, sprang bis auf Goldies "Timeless" und A Guy Called Geralds "Black Secret Technology" nicht sonderlich viel Bleibendes heraus. Beide bedeckt mittlerweile einiger Staub. Jamiroquai hüpften 1996 noch schnell zusammen mit M-Beat auf den fahrenden Zug ("Do U Know Where You're Coming From"), bevor David Bowie Jungle und Drum'n'Bass 1997 mit "Earthling" beerdigte. Danach fand der Sound für lange Zeit nur noch in seiner Nische statt. Abseits davon geriet er mehr und mehr in Vergessenheit.

Nach nun fast drei Dekaden wird es Zeit, mal wieder ordentlich mit dem Teppichklopfer an das Genre zu gehen. Genau hier kommt Nia Archives ins Spiel. Bereits auf ihren ersten drei EPS "Headz Gone West" (2021), "Forbidden Feelings" (2022) und "Sunrise Bang Ur Head Against Tha Wall" (2023) schüttelte die Mittzwanzigerin es ordentlich durch. Siehe das mit dem brasilianischen Chor Barbatuques aufgenommene "Baianá" und das von Bossa Nova durchzogene "That's Tha Way Life Goes". Zudem fügt sie dem in der Vergangenheit oft kalt wirkendem Sound mit ihren Texten und ihrer Stimme Melancholie und Herzschmerz hinzu.

Auf ihrem Longplayer-Debüt "Silence Is Loud" kommen in den zusammen mit Ethan P. Flynn (FKA Twigs, David Byrne) geschriebenen Songs nun zunehmend R'n'B, Pop und von den Beatles, Blur und Oasis beeinflusster Britpop hinzu. Während aber zum Beispiel PinkPantheress auf ihrem glänzendem Album "Heaven Knows" aus dem letzten Jahr Jungle eher als modisches Lametta zum Ausschmücken ihrer Tracks nutzte, dient er auf "Silence Is Loud" als das Fundament, auf dem alles andere entsteht. Dehaney Nia Lishahn Hunts Herz schlägt hektisch in 166 BPM.

"Forbidden Feelingz" und "So Tell Me…" schwappen unverändert von den EPs herüber. Ersteres fällt düster aus, verbreitet, mit echoüberhangenem Gesang und von einem "One More Thing"-Columbo-Sample unterstützt, eine unheimliche Atmosphäre. "So Tell Me…" klingt dagegen, mit akustischer Gitarre ausgestattet, sommerlich fluffig. Ganz im Gegenteil zum Text über widersprüchliche Emotionen in einer destruktiven Beziehung.

Der leichtfüßige Pop-Song "Cards On The Table" strotzt nur so vor Leichtigkeit, vereinigt Indie-Rock-Klänge mit Jungle, kratzt sogar noch am Country. "When I'm with you, it's always fun, you make me feel so young", singt die in Bradford geborene Produzentin mit sanfter Stimme im Refrain. Hier kommt die Überraschung: Du bist jung! Das ebenso einnehmende "Crwoded Roomz" mit einprägsamer Hook ("I feel so lonely, especially in crowded rooms / It's a facade, my persona is my costume") stellt den introvertierten zweieiigen Zwilling zu "Cards On The Table" dar. Zusammen stehen die beiden als Aushängeschild von "Silence Is Loud" und bieten einen perfekten Zugang zu Nia Archives.

Das abrupt nach nicht einmal zwei Minuten endende "Blind Devotion" erinnert von Stimmung und Gesang an Erykah Badus Auftritt in "You Got Me" von The Roots, ohne Nia mit dem Vergleich auf eine Stufe mit Badu stellen zu wollen. Das intensive "Tell Me What It's Like?" ehrt Goldie mit einem kurzen Gastauftritt. Ein intensiver, an die Clubs gerichteter Track.

Oft scheint es, als baue Nia Archives diese Soundmauern auf, um ihre verletzten Gefühle hinter ihnen zu verstecken. Fühlt sie sich erst einmal sicher, singt sie vom Bruch mit der Familie: "And in seven years, nothing's changed / Even now I still don't feel I belong / ... / I don't identify / With my F.A.M.I.L.Y / 'Cause sometimes things don't feel right / ... / Stay out of mind / Out of sight."

Für einen kurzen Moment lässt sie die Zugbrücke herunter. Bestimmen den berauschenden Opener und Titelsong "Silence Is Loud" noch Schreie, Bass und Lärm, verzichtet sie in "Silence Is Loud (Reprise)" auf all dies. Es bleiben ein Klavier, Hall und Wehmut. Ein Moment der Intimität, den sie ihrem Bruder Zac widmet: "If I ain't got you around / Then I'm lost and I don't wanna be found / You're the only thing keeping me sound / And without you, the silence is loud." Ganz so schlecht scheint es nicht mit allen in der Familie zu stehen.

Zeitgleich zeigt das Stück, dass es eine Nia Archives nach dem Trend geben kann. Hört sich all dies momentan noch herrlich frisch an, darf man doch bezweifeln, dass sich Jungle und Drum'n'Bass diesmal viel länger als bei ihrem ersten Durchgang halten. (Gerne lasse ich mich vom Gegenteil überzeugen.) Will die Produzentin, DJ und Sängerin in Zukunft nicht untergehen, wird sie einen neuen Ausweg finden müssen. Bis dahin stehen jedoch die gelungenen EPs und mit "Silence Is Loud" ein grandioser Longplayer. Wer hätte 1995 gedacht, dass eines der besten Jungle-Alben knapp dreißig Jahre später erscheint?

Trackliste

  1. 1. Silence Is Loud
  2. 2. Cards On The Table
  3. 3. Unfinished Business
  4. 4. Crowded Roomz
  5. 5. Forbidden Feelingz
  6. 6. Blind Devotion
  7. 7. Tell Me What It's Like?
  8. 8. Nightmares
  9. 9. F.A.M.I.L.Y
  10. 10. Out Of Options
  11. 11. Silence Is Loud (Reprise)
  12. 12. Killjoy!
  13. 13. So Tell Me…

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