laut.de-Kritik
Ohne die Briten wäre Techno heute ein Rechtschreibfehler.
Review von Michael SchuhIm Jahr 1987 war die Welt noch in Ordnung, klagen Depeche Mode-Fans gerne und denken dabei an den Klassiker "Music For The Masses". Nitzer Ebb-Fans denken ans selbe Jahr und das Album "That Total Age", das offizielle Debüt des Londoner Trios und der wohl unangefochtene Meilenstein der Electronic Body Music-Bewegung.
Knapp 20 Jahre nach der Veröffentlichung und rechtzeitig zur punktuellen Live-Reunion der NE-Köpfe Bon Harris und Douglas McCarthy veröffentlicht Mute Records nun endlich eine Retrospektive der legendären Krawallmacher und Freunde von Tarnnetzen. Es dürfte für spätgeborene Techno-Kids heute nur noch schwer nachvollziehbar sein, warum ein Song wie "Murderous" mit seinen niedlichen 130 beats per minute in der Avantgarde-Sahelzone der Mittachtziger-Popszene einen derart staubigen Wirbelsturm auslöste.
Daniel Miller, seit jeher prophetisch veranlagter Labelboss von Mute, bemerkte dagegen sofort, dass die um eine Spur radikaler als Front 242 auftretenden Briten gerade dabei waren, ein neues Musikkapitel zu öffnen. Vier Jahre nach DAFs "Mussolini" kratzten zwei Männer plötzlich noch brachialere Sequenzerbeats aus ihren Drumcomputern und Samplern hervor und reichten mit Douglas McCarthy einem Mann das Mikro, der dem an Flak-Kanonenfeuer gemahnenden Electro-Stakkato finstere Themen wie das Warschauer Ghetto zur Seite stellte, diese anstandslos in die ohnehin schon verängstigte Welt hinaus brüllte und damit der heute gängigen Bezeichnung "Shouter" unbewusst erst Inhalt verlieh.
"Murderous", "Let Your Body Learn", "Join In The Chant"; innerhalb nur eines Jahres breitete sich die Nitzer-Epidemie 1987 dank dreier diskothekentauglicher Schrei-Orgien auf dem gesamten europäischen Kontinent aus, angeheizt durch Supportshows für die gerade immer größer werdenden Depeche Mode. Wenig verwunderlich, dass sich bis heute die größten Nitzer Ebb-Fans aus deren unüberschaubarem Fanpool zusammen setzen.
Teil eins von "Body Of Work" beginnt chronologisch korrekt beim gerne übersehenen Frühwerk "Isn't It Funny How Your Body Works" (1985) und endet nach 17 weiteren, in jeglicher Hinsicht intensiven Beiträgen bei der '95er Abschiedssingle "I Thought". Es gibt sicher wenige Eingeweihte, die das Nitzer Ebb-Abschlusswerk "Big Hit" von 1995 für einen Meilenstein ihrer Bandkarriere halten, zumal es zu diesem Zeitpunkt mit "That Total Age" (1987) und "Showtime" (1990) alleine schon zwei große, und mit "Belief" (1989) zumindest ein kleines gab.
Ohne die Briten, die ab 1988 nur noch zu zweit operierten, wäre Techno heute womöglich allenfalls ein Rechtschreibfehler. Dennoch war es McCarthy und Harris schnell unangenehm, immer nur in die EBM-Schublade einsortiert zu werden. Bereits auf "Belief" bewegte man sich fort von der schnurgeraden BPM-Drehzahl und bewies beispielsweise auf "Hearts And Minds", dass harter Electro auch ungemein funky sein kann. Zwei Jahre später dann der Ritterschlag: die Avantgarde-Band rekrutiert mit George Clinton die P-Funk-Legende höchstpersönlich für Remixe von "Lightning Man" und "Fun To Be Had" (Long Mix), letzterer einer der besten auf der Remixschau der zweiten CD.
Selbst der damals noch unbekannte Madonna-Produzent William Orbit durfte sich in seiner Jugend an zwei NE-Songs abarbeiten und schlägt sich erstaunlich wacker. Das bereits gelobte "Hearts And Minds" pluckert im Hypersonic-Mix nicht weniger galant. Als Nitzer Ebb 1995 von der Bühne abtreten, lassen sich ihre Schüler Sven Väth und Derrick May bereits weltumspannend feiern. Die demnächst erscheinende Platte "Body Rework - Remixes" beinhaltet aktuelle Remix-Huldigungen bekannter DJs wie May, The Hacker oder Black Strobe.
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