laut.de-Kritik

Der Sammler könnte mal wieder jagen gehen.

Review von

Bei Aphex Twin ist man sich gerne mal unsicher, ob er die Fragen, die er aufwirft, bewusst thematisiert, oder sie ihm einfach so egal sind, dass sie en passant anfallen. "Music From The Merch Desk (2016-2023)" war genau das: Musik, die auf Konzerten vom Twin verkauft wurde. Jetzt ist sie es halt nicht mehr. Teilweise war sie es aber eh schon nicht, denn in dieser Scheibe enthalten ist die als "Field Day" bekannte EP, die in London am 03. Juni 2017 verkauft und kurz später auf Streamingplattformen veröffentlicht und im April 2024 um weitere Bonustracks ergänzt wurde. Nur Barcelona und die jüngste London-Scheibe waren noch nie digital über Aphexs Website verfügbar. It's a mess.

"Music From The Merch Desk (2016-2023)" ist also nicht nur eine Kompilation, sondern ein Komposit aus sehr unterschiedlichen Dingen: Man fühlt sich oft an "Orphaned Deejay Selek 2006-08" erinnert, auf dem "Umil 25-01 [Manchester 20.09.2019]" in anderer Version als Bonustrack enthalten war. Alles ist separat, ein roter Faden ist nicht erkennbar, wirkt aber auch nicht gewollt. "Nightmail [London 14.09.2019]" war mal ein Teil eines Haufens, den James auf Soundcloud spie, und man hört diverse Alben des Briten an verschiedenen Stellen heraus.

Lediglich "Spiral Staircase (Afx Remix) [London 14.09.2019]" stammt im Original von Luke Vibert, ansonsten findet sich nur Originalmaterial von AFX. Der Houston-Teil ist sehr aggressiv und verwaschen-basslastig, muss man mögen, gerade, weil es diesem konservativen Ansatz über 20 Minuten treu bleibt; am härtesten ist immer noch die harte Musik, die nie ausbricht. Eine willkommene Ergänzung des Katalogs. Die viel Platz einnehmende Field-Day-Scheibe wartet mit ihren altbekannten Stärken & Schwächen auf: Viel davon bräuchte es nicht ("T05 Tx16w Marion Mt***,e [sketches] [London 03.06.17]", "T20a Ede 441 [London 03.06.17]"), dazwischen tummeln sich aber mehr als nur einige geniale Momente (Standout: "Em2500 M253x [London 03.06.17]").

Die zweite Londoner Scheibe ist mein klarer Favorit, alle acht Tracks überzeugen, insbesondere "4x Atlantis Take 1 [London 14.09.2019]" & "Midi Pipe2c Edit, +3 [Manchester 20.09.2019]". Der Feel ist kohärent quirky-verspielt und recht klar nicht für die Festivalbühne, sondern fürs Wohnzimmer geschrieben, aber nicht für den Ohrensessel, sondern um tanzend durch die Wohnung zu sausen. Barcelona hält dieses Niveau, vor allem "Rfc Pt8 [Barcelona 16.06.2023]" ist eine lebendige, hochqualitative Nummer, die Richtung Club abbiegt, wenn gegen 0500 Uhr morgens die Sonne durch die Milchglasscheiben bricht. Die dritte Londonscheibe ist leider der Tiefpunkt des Ganzen: disparat, skizzenhaft, frickelige Hintergrundmusik. "Korg Funk5 [London 19.08.2023]" & "Soog E [London 19.08.2023]" wirken wie erste Erkundungen von Soundideen, die noch nicht mal Studienniveau aufweisen.

Zu den Fragen, die Richard D. James so aufwirft, zählt nicht nur der Vertriebsaspekt von Musik, sondern überhaupt deren Wert; fast wundert es, dass er Tracks noch Namen gibt. Denn wer sich wirklich völlig sicher gibt, dass er keinen dieser Tracks entweder in einer Art Button-Mashing programmierte oder einer KI sagte: "Mach mal was wie Aphex Twin, aber als Demos", der lüge. Und natürlich wirkt das alles gimmicky, allein schon wegen des Covers, das auf einem Bootleg-T-Shirt basiert. Wo fängt Selbstironie an, wo hört Respekt vor dem eigenen Werk auf, gerade als lebende Legende?

Vielleicht geht es aber um die schlichte Frage: Macht "Music From The Merch Desk (2016-2023)" Spaß? Antwort: Meist ja. Braucht es dafür eine gewisse Stimmung/ holt es einen ab? Den AFX-geübten Hörer holt es ab, Genrefremde sicherlich nicht. Ist es genredefinierend/ bahnbrechend/ dem Mythos AFX auf lange Sicht gesehen zu- oder abträglich? Nein. Wollen wir ein neues Album und ist Richards Archiv hoffentlich langsam leer? Ja.

Trackliste

  1. 1. No Stillson 6 Cirk [Houston, TX 12.17.16]
  2. 2. No Stillson 6 Cirk Mix2 [Houston, TX 12.17.16]
  3. 3. 42dimensit3 E3 [London 03.06.17]
  4. 4. Mt1t1 Bedroom Microtune [London 03.06.17]
  5. 5. T18a Pole1 [London 03.06.17]
  6. 6. T03 Delta T [London 03.06.17]
  7. 7. Em2500 M253x [London 03.06.17]
  8. 8. T23 441 [London 03.06.17]
  9. 9. 42dimensit10 [London 03.06.17]
  10. 10. T20a Ede 441 [London 03.06.17]
  11. 11. Mt1t2 Olpedroom [London 03.06.17]
  12. 12. T47 Smodge [London 03.06.17]
  13. 13. Sk8 Littletune Hs-pc202 [London 03.06.17]
  14. 14. T13 Quadraverbia N+3 [London 03.06.17]
  15. 15. T16.5 Madma With Nastya [London 03.06.17]
  16. 16. T17 Phase Out +3 [London 03.06.17]
  17. 17. 15t63 Neotek 2h949 +3 [bonus Beats] [London 03.06.17]
  18. 18. T08 Dx1+5 [London 03.06.17]
  19. 19. T69t07 Stasspa+3 [London 03.06.17]
  20. 20. T05 Tx16w Marion Mt***,e [sketches] [London 03.06.17]
  21. 21. T46 Se70 Rinseout2 [sketches] [London 03.06.17]
  22. 22. Zt01 [sketch1] [London 03.06.17]
  23. 23. 21txt1+4 Ds8 Flngchrods[sketch0.1b] [London 03.06.17]
  24. 24. Spiral Staircase (Afx Remix) [London 14.09.2019]
  25. 25. 4x Atlantis Take 1 [London 14.09.2019]
  26. 26. Nightmail [London 14.09.2019]
  27. 27. Soundlab20 [London 14.09.2019]
  28. 28. Pretend Analog Extmix 2b,e2,ru [Manchester 20.09.2019]
  29. 29. Rozzboxv2mam+4 [Manchester 20.09.2019]
  30. 30. Umil 25-01 [Manchester 20.09.2019]
  31. 31. Midi Pipe2c Edit, +3 [Manchester 20.09.2019]
  32. 32. Rfc Pt8 [Barcelona 16.06.2023]
  33. 33. Afxfm E [Barcelona 16.06.2023]
  34. 34. Korg Funk5 [London 19.08.2023]
  35. 35. Korg 1b Ru,ec,e [London 19.08.2023]
  36. 36. Soog E [London 19.08.2023]
  37. 37. Body Pads [London 19.08.2023]
  38. 38. Dgitne Tst1e [London 19.08.2023]

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1 Kommentar

  • Vor einem Tag

    Er benennt erstaunlich viele tracks nach irgendwelchem Audioequipment oder Software. Da wären z.B.: Technics RS-M 253, Aiwa HS-PC 202, Alesis Quadraverb, Neotek (mixing console), Yamaha DX1, Yamaha DX5, Yamaha TX16W, Boss SE-70, Korg DS-8, RozzBox One V2, MidiPipe, ein nicht näher spezifizierer Moog und ein Elektron Digitone-8.

    Irgendwie beruhigend, dass er da so unkreativ ist. :)