laut.de-Kritik
Don't just rap - say something!
Review von Philipp KauseWashington, Anfang der 1990er. Crack hat die Straßen an den Stadträndern fest im Griff. Wenn im Morgengrauen gedealt wird, ist es gruselig an der Bushaltestelle. "Morgens um fünf, wo seid ihr da?", fragt Rapperin Nonchalant 1996. "Outside on the corner", tönt es ihr entgegen, "draußen an der Ecke". Wer Polizeigewalt gegen People of Color geschichtlich einordnen will, sollte nicht einfach einen Sprung von Martin Luther King und den Riots der '60er direkt zu George Floyd und 2020 machen, sondern Nonchalant zuhören, denn in der Zwischenzeit ist einiges passiert.
Tonya Pointer a.k.a. Nonchalant teilt gerecht nach allen Seiten aus. Sie findet schlecht, dass armselige Drogendealer ausgegrenzt in Kriminalitäts-Statistiken verschwinden, ohne den (politisch gewollten) Ursachen für ihre Taten auf den Grund zu gehen. Sie stört sich aber auch daran, dass sich Kriminelle zu ihrem illegalen Gewerbe hinreißen lassen und sich quasi selbst aufgeben, an Selbstmitleid, Selbstabwertung und Passivität.
Einmal rappt sie ganz explizit, all das fange schon beim Gebrauch von Ghetto-Slang-Sprache an. Sie selbst entscheidet sich entsprechend für ein allgemein verständliches Sprach-Level ohne jeden Soziolekt: kein Slang, kaum Vulgäres, keine Fremdwörter, keine gestelzten Witze, eher gehobene Umgangssprache. Sie formuliert so neutral, dass ihre Botschaft in jedes Milieu durchdringen kann. Für Nonchalant, ein einschneidender Punkt auf "Until The Day", sind die Leute in ihrer Hood nicht etwa 'black bros', denen sie sich automatisch verbunden fühlt, sondern einfach Ausübende ihrer Taten. So einfach. Falsches bleibt falsch, auch wenn es Leute tun, denen man gerne helfen würde.
"Crab Rappers" fungiert als Programmansage und als Klanggemälde von Nonchalants Handschrift. Der Signature-Tune der CD erschien zwar nie als Single, erläutert aber das Vorgehen der Rapperin perfekt. "I'm spraying out lyrics like water from a jet-ski (...) Get nothing but a chicken, and Nonchalant's got your hot sauce", spittet sie, unmittelbar und raw. Das Markante und Deftige ihrer Aussagen rangiert oberhalb rein technischer Eleganz. Nonchalant will verstanden werden. Stilistischer Schliff ergibt sich bei ihr nicht linguistisch, sondern aus der Genauigkeit des Contents.
Sobald sie das Geschehen an den Straßenecken draußen kritisch kommentiert oder auch nur bildlich beschreibt, taucht sie tief in ihr Element ein und eröffnet ein geradliniges Konzeptalbum. Worthülsen gibts hier keine. Dafür reicht der Platz gar nicht zwischen all den vielen Detail-Beobachtungen. "Until The Day" verdichtet eine Stadt-Studie zu einem ethnographischen Porträt verunsicherter Gestalten, die sich am seidenen Faden von Tag zu Tag hangeln und alle ein Fall für Streetworker wären. Dafür setzt die Produktion der Platte auch Geräusche ein, etwa die prominent platzierten Sirenen in "Lights N'Sirens", einem wortwitzreichen Hörspiel mit Dialogen. "Until The Day" verkörpert das Geschehen bei Nacht und bis zum Tagesanbruch, treibt sich an den düsteren Orten herum.
Viele Textstellen weben einen roten Faden des Existenzialismus: Lohnt sich das Leben, wenn es ein fragiles Konstrukt aus Selbstbetrug ist? Hat die Zivilisation in der modernen Metropole den Menschen lebensuntauglich gemacht und ihn in einen Strudel der Selbstzerstörung gedrängt? Solche Zeilen und Text-Momente finden sich in Innenansichten von Gefühlen, Beobachtungen von Fakten, Wortwechseln und schlussfolgernden frechen Analysen. Nonchalant dient dabei als Stadtführerin und geht selten in die Ich-Form über.
"Tief in deiner Seele hast du Tränen in den Augen", heißt es in "Crab Rappers" über einen abgehalfterten Junkie. Manchmal äußert die MC Appelle und switcht in die Rolle der empowernden Sozialarbeiterin: "Die Klänge von Schreien haben mich dazu gebracht, mir selbst die Frage zu stellen, ob mein Leben den Aufwand wert ist (...) Ich weiß, dass ihr wisst, wie der Deal ausschaut. Ihr wisst einfach, wie temporär das Leben sein kann und findet einen Weg, zu versuchen, mit mir dieses Leben zu leben. Nennt mich nicht verrückt, weil ich die Dinge ausspreche. Ich sage sie, wenn ich sie so fühle. Aber jetzt brauche ich etwas Feedback von euch. An alle jungen Leute: Bekommt euren Arsch hoch, bevor euere Zeit vorbei ist!"
"The longer you wait to turn around the longer your ass is gon' be pointing in the same direction alone with no affection", ergänzt "Crab Rappers" mit einer groben, bildstarken Punchline: Je länger du eine Umkehr hinauszögerst, desto länger zeigt dein Arsch in dieselbe Richtung. Es gibt viele solcher Textstellen, die berühmteste lautet wohl "You can't see where you gonna be, a statistic, everybody's gon' call ballistic. If you had a good day, damn, I must have missed it."
Die Newcomerin, die über Nacht einen Plattenvertrag ergattert hatte, textet ohne Bretter vorm Kopf und punktet mit doppelter Empathie: In die Sozialfälle ihrer Hood versetzt sie sich psychologisch hinein, fühlt deren Gefühllosigkeit, die frostige Leere, den Drogensumpf, die Einsamkeit, das Sinnentleerte. Noch mal in brutaler Version in "5 O'Clock": "All the keeling that you're feeling is from within."
Genauso versetzt sie sich aber in ihr Publikum hinein und wählt prägnante Formulierungen. So rappt die damals 25-Jährige effektiv und bewegend. Es geht ihr nicht um sich, sondern um Kulturvermittlung. Nebenbei erweist sie sowohl sich selbst als auch allen Female Rappers einen Riesendienst: Sie rückt die Option, dass Frauen am Mic hartkantig und selbstbewusst auftreten können, in hohe Charts-Regionen. "Don't just rap - say something!", proklamiert die Aufschrift auf ihren Merch-T-Shirts. Ein Satz, den man fühlen muss.
Der zeitgeistige Kontext: Nonchalants "5 O'Clock" und "Fugee-La" mit Lauryn flowen im Golden Era-Frühsommer '96 Hand in Hand und pushen dieses Bewusstsein in schöner Synchronizität. Ähnlich wie Lauryn Hill überzeugt auch Nonchalant mit einer Sprachmelodie, die per se musikalisch klingt. Ihr Talent für rhythmisch-lyrischen Wohlklang durchzieht alle Tracks des Albums. So bleibt höchstens das Titelstück als Fremdzulieferung eines Auftrags-Producers und allzu offensichtliche "Earth Song"-Interpolation qualitativ hinter "5 O'Clock" zurück. Alle anderen Tracks, die im Kreise ihrer B.L.A.K. Productions keimen, stehen dem Hit in nichts nach. Die auffallend wandlungsfähige Stimme trägt verschiedene Stimmungen und Koloraturen der Mixtape-artig aufgebauten Scheibe.
"The sounds of screams got me wonderin' if my life is worth the means." Sätze wie dieser gehen unter die Haut und verfließen mit den ausgesprochen gut gemachten Beats. Nonchalant ist MC Solaars Schwester im Geiste, eine von denen, die Hip Hop Culture so verstehen, dass Musik zu einer Reimkaskade inspirieren kann, aber auch ein starkes Eigenleben braucht. So kann sich sogar das Instrumental auf der "5 O'Clock"-Maxi-Single gut hören lassen und bounct bereits ohne Worte stark.
Dabei soll der Tune weh tun, statt nur smooth ins Ohr zu gehen, der Text belegt den Selbsthass sozial Benachteiligter: "Okay, ich bin nicht hier um zu schelten, aber auch nicht, um dahin zu modern." Immer wieder rüttelt die Musikerin an der Eigenverantwortung von Leuten, die sich aufgegeben haben oder aufzugeben drohen. Vom Mainstream des anklagenden 'Keiner-hat-uns-lieb-weil-wir-schwarz-sind' distanziert sich Nonchalant mehr als deutlich. Sie benennt Ursachen, Folgen, soziologische Mechanismen, Teufelskreisläufe, aber immer auch die Punkte, an denen sich die Spiralen durchbrechen ließen und man etwas an den Situationen verändern könnte.
Strukturiert unterteilt sie ihr Album in Themenfelder: bestechliche und bequeme Polizisten, organisierte Kriminalität, illegaler Waffenbesitz, Raubüberfälle, aufgebrochene Autos, Alltags-Rassismus, Bildungsferne und ein versagendes Schulsystem, Drogen, Alkohol, Fastfood, die Rolle der Frau im Ghetto-Milieu, Empowerment und die Hoffnung auf ein bisschen Nächsten- ("It's All Love") und Selbstliebe. Da steckt also viel drin. "Until The Day" brilliert als reichhaltige Platte mit vielen kleinen Einschüben, Beispielen, Szenen, Szenarien, Erwähnungen und voller fetter Wahrheit. Die Summe macht das Album so zeitlos.
Die Tragik, dass es bei diesem einen Longplayer blieb, obwohl noch weit mehr aufgenommen wurde und man hier schon merkt, dass Nonchalant noch viel zu erzählen hatte, weckt umso mehr Neugier. Weshalb die längst verhökerte Plattenfirma MCA nicht erkannte, was für ein Goldesel die Newcomerin hätte werden können, gehört in den nie geschriebenen Sammelband der Fehleinschätzungen bei Plattenverträgen.
"5 O'Clock" war definitiv kein Zufalls-Treffer, manche anderen Tunes dieses Albums hätten womöglich noch mehr den Zeitgeist getroffen, und nahezu jeder Track hätte als Charts-Single getaugt. Für ihre Zeit, für 1996, hörte sich Tanya Pointer überwiegend nach zeitgenössischem Boom Bap an. Nonchalant betont in der Erinnerung, dass der damals in Washington nicht verbreitet gewesen und der Sound der Stadt vor allem Go-Go gewesen sei. Der Austausch mit der Außenwelt geschah damals noch nicht so schnell. Purer Boom Bap crashte selten die Charts. Das Funk-getränkte "Crab Rappers", die Gospel-Pop-Hook des Titelsongs "Until The Day" sowie die R'n'B-Ableitungen "It's All Love" und "Lookin' Good To Me" hätten wahrscheinlich noch die besten Karten für weitere Erfolge gehabt.
Der klassisch und karg gehaltene Boom Bap-Kopfnicker "Have A Good Time" spielt mit seinen krassen Flow eine absolut großartige Rampe von den Strophen hinüber in den Refrain aus, "it's all about a good time on the weekend, party on the sunday when you should be sleeping", und zeigt ein Spektakel der Euphorie, Burner und Downer, Sexualität und Tanz im Nachtleben und die Stimmung danach. Das Kickdrum-Manifest "Mr. Good Stuff" mit dem Mantra "Bald head, strong back and not a weak mind" (das sich wie "Party strong like an enemy" anhört), schraubt sich tief in den Gehörgang. In der hypnotischen und surrealen Nummer über die sexuelle Anziehungskraft eines Dealers mimt Nonchalant stimmlich die Zweifelnde, Abgeklärte, Verruchte, ganz cool, ganz nonchalant und ohne eine einzige aufgeregte Betonung.
"Until The Day" war trotz der sichtbaren Frontfrau ein Projekt mit zwei männlichen Beatmakern, Kapin und Bam (bei "5 O'Clock" noch einem dritten namens Smoovy) und einem männlichen Arrangeur, Lonnie. Dass das Ganze am Ende rund klang und mit den Vocals eine Einheit bildete, war indes der Job einer Frau, Nicole Doward, geborene Bernard. Sie war Managerin der Lords Of The Underground, eines stilprägenden Funkrap-Trios aus New Jersey, und arbeitete an Nonchalants CD als 'Executive' mit. Sie kannte sich aus: Nicole hatte zu dieser Zeit auch eine sympathische MC in East Orange entdeckt, Sakinah Britton, deren geniales Mixtape "Same Ol' Sah-B Shit" nie erschien und eine ähnliche Wortgewalt und Unbändigkeit wie Nonchalants "Until The Day" besitzt.
Wuchtige Worte waren bei Nonchalant, kurz Non', nur die äußere Hülle für ein tiefes Meisterstück an Psychologie. Der melancholische Kern von "5 O'Clock" lautet: "Es ist wirklich Wirklichkeit, ich sehe all meine Brothers unter der Erde. Mit einem Schlag kippen sie um. Das macht mich wahnsinnig: Dass ihr nicht seht, wo ihr seid, was ihr seid: eine Zahl in einer Statistik. Und jeden wird man bewaffnet nennen. Wenn ihr je einen guten Tag hattet, Mist, dann muss ich das wohl verpasst haben. Weil ihr verrückt seid, alles opfert und zur Hölle fahrt, indem ihr nur euren eigenen kleinen Vorteil an die erste Stelle setzt. Ich fühle das dringende Bedürfnis, euch in ein kleines Geheimnis einzuweihen, weil ihr sonst weiter sterben werdet, wenn ich es für mich behalte: Jeder Kollaps, den ihr erlebt, kommt von innen. Und was die Polizeileute angeht, checkt mal eure Hautfarbe. Warum soll ich lügen? Ich könnte es nicht einmal versuchen, selbst wenn ich es müsste. Denn ich bin quasi geboren mit einer kugelsicheren Weste. Bin eine schwarze Frau, die irgendwie versucht, durchzukommen. Es als eine der wenigen zu schaffen, die übrig bleiben, und die sich dann wieder eine neue Crew suchen müssen."
Das alles ist klar, deep, rabiat und einfach spitze formuliert. Den Punkt mit dem "eigenen kleinen Vorteil" kerbt Tanya am Ende noch präzise aus: "Your brother gettin' skinny, cause you want your pockets fatter." So kompakt, so geschliffen. Nonchalant knöpfte sich dabei das Kollektiv als Thema vor: Wie funktioniert Zusammenleben? Warum nicht? Wieso ist es zum Beispiel für eine Frau, die als Afroamerikanerin nicht gerade einen weißen Partner finden wird, so schwierig, ihr Single-Dasein zu beenden? Bestimmt nicht, weil die liebe Nonchalant so furchteinflößend war, nein: "Also, ich bin einfach eine Nubian Queen, die einen König braucht, der stark an ihrer Seite steht und das Leben in die Hand nimmt. Sie möchte keinen Straftäter und keinen Jammerlappen. "Denn nein, es ist nicht der 'weiße' Mann, der seinen Finger am Abzug hat. Ihr seid es selbst, die ihr Autos klaut, euch gegenseitig im Vorbeifahren abschätzig 'Nigga' nennt."
Nonchalant ist ultrahart darin, was und wie sie es formuliert, und es ist gut, dass sie, statt zu spalten, das Verhalten benennt und nicht jeden Sachverhalt mit Hautfarbe begründet. Es gibt bei ihr vier Sorten Täter: Straftäter, Leute, die sich selbst diskriminieren, käufliche Justiz, die auf einem Auge blind ist, und Polizei, manche Polizeibeamte, nicht (!) die Institution.
"Hanau ist überall", las ich kürzlich wieder auf einem Graffiti. Zeit, sich dem Thema Polizeigewalt Schritt für Schritt zu nähern. Da hilft "Lights N'Sirens", Nonchalants Geniestreich, mit dem sie sich selbst übertraf. Non vertritt die Theorie der schwarzen Schafe, der Ausnahme-Fails, die alle in Misskredit bringen. "Lights N'Sirens" ist musikalisch und verbal einer der besten Songs aller Zeiten im Bereich Black Lives Matter, Polizei und Alltagsdiskriminierung. Einer der besten, die seit den Urvätern Bill, Gil, Donny und Curtis geschrieben wurden.
Allzu beliebt mag sich Nonchalant mit ihren kontroversen Aussagen über die innere Sicherheit der Hauptstadt und mit ihrer detailreichen Schilderung Crack-, Koks- und Crystal-verseuchter Outskirts und fauler, feiger Uniformierter nicht gemacht haben. Aber: Recht hatte sie mit ihren Texten wohl eins zu eins. Kommerziell und kulturgeschichtlich war sie ein Phänomen, verkaufte in Gold-Stückzahlen und machte Female Rap in Europa populär. Doch dieses einzige Album fand sich, Stand 2020, weder auf Spotify, Shazam, iTunes, Amazon, Bandcamp, Soundcloud noch Deezer. Dabei war sie ein Role Model. Die Rapperin Nonchalant zeigt einmal mehr, dass manche Musikstile die Chance auf Gender-Equality hatten, sie aber dann einbüßten und einen Rückschritt zu Dysbalance und Goldkettchen-Macho-Gehabe der 50 Cent-Ära verzeichneten.
2021 sicherte sich Nonchalant die digitalen Verwertungsrechte für ihr 1997 geplantes Nachfolge-Album "For All Non-Believers" und gab das Werk endlich auf Spotify für die Welt frei. Diese Frau hat so viel Talent, dass eines dieser seltenen, unglaublichen Spät-Comebacks wie bei Chaka Khan möglich scheint. Hoffentlich findet die heute 52-Jährige noch einmal ein Label, das ihren wahren Wert erkennt. Das einzige offizielle Album endet mit einem "Thank You", und das kann man nur zurück geben: Dankeschön, Non, für diese Musik und für die Lehrstunde, wie man eine Platte komplett mit Sozialkritik füllt und dabei total spannend bleibt.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
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