laut.de-Kritik
Ein Meisterwerk mit Ansage.
Review von Manuel BergerEs ist ein Meilenstein mit Ansage. Inspiriert von einem Motto-Plattenabend mit seiner Freundin wollte Mikael Åkerfeldt Songs schaffen, die "ein Kribbeln, einen Schauer über den Rücken, Tränen oder wenigstens das Gefühl, du könntest weinen" auslösen, seine Definition eines Meisterwerks. Um dieses Ziel zu erreichen, schlägt er Brücken in die Vergangenheit Opeths, mehr als auf den vorangegangenen Alben. Er zieht Register der Klassik, opulenter Arrangementkunst, treibt seine Mitmusiker zu individuellen Höchstleistungen, manipuliert seine Hörer mit atmosphärischen Samples, holt thematisch weiter und direkter aus denn je, und er singt auf Schwedisch.
"In Cauda Venenum" erscheint in zwei Versionen. Unsicher, wie das internationale Publikum auf Texte in seiner Muttersprache reagieren würde, übersetzte Åkerfeldt das gesamte Album auf Englisch. Unterschiede ergeben sich abseits der Sprache kaum. Wer aber haarfein analysiert, findet bei "Kontinuerlig Drift" eine im Pendant "Continuum" fehlende Zeile und Stimme. Geschuldet den doppelten Aufnahmesessions ergeben sich außerdem kleinere Harmonieverschiebungen sowie Variationen im Ausdruck. Die englischen Vocals klingen teilweise rauer, aggressiver (etwa bei "Hjärtat Vet Nad Handen Gör"/"Heart In Hand"), die schwedischen mit vielen betont offenen Vokalen tönen weicher. Beide Ausgaben haben ihre Vorzüge.
Sprache ist zwar nur eines von unzähligen Puzzlestücken im Gesamtkunstwerk "In Cauda Venenum", jedoch das, das Åkerfeldt gerade zu Beginn des Songwriting-Prozesses maßgeblich befeuerte. Vielleicht auch deshalb experimentierte er mit Spoken Word- und sonstigen Samples, einem weiteren neuen Element im Bandkosmos. Die Beiträge stammen aus unterschiedlichsten Gefilden. Durch "Banemannen"/"The Garroter" geistern Stimmengewirr, Jubel und Wehklagen zur emotionalen Unterstützung bestimmter Textzeilen. Bei "Charlatan" trifft ein gregorianischer Choral auf kindliche Überlegungen von Åkerfeldts und Gitarrist Fredrik Åkessons Töchtern zur Natur Gottes ("Gibt es nur einen Gott?" – "Nein." – "Wie viele?" – "30 Millionen und Hunderttausende!"). Späßchen machen Opeth in "Hjärtat Vet Nad Handen Gör"/"Heart In Hand", wo sie Nonsens aus Jan Lööfs Puppenspiel "Skrot-Nisse" zitieren: "Einfach schrecklich. Igittigitt." – "Wer zur Hölle bist du denn?"
"Svekets Prins"/"Dignity" prägt der Teil einer Rede des 1986 ermordeten ehemaligen Ministerpräsidenten Schwedens, Olof Palme. Opeth wählen diesen Auszug geschickt. Er geht einerseits als Ausblick auf das musikalische Geschehen im Kontext der eigenen Diskografie durch: "Am Ende eines Jahres werden viele melancholisch, weil sie darüber nachdenken, was war und nie zurückkehren wird. Für andere ist es ein Moment der Vorfreude auf die Möglichkeit, das Neue zu entdecken." Andererseits als politischer Kommentar: "Jemand sagte neulich, dass wir uns in der großen Zeit des Umbruchs befinden."
Tatsächlich flicht Åkerfeldt an mehreren Stellen solche subtil politischen und gesellschaftskritischen Verse ein. Dabei wählt er teils sogar ungewohnt direkte Worte, statt sich hinter Metaphern zu verstecken. Er singt von "barricades of wealthy youth / protesting their inborn truth", "fascist lies" und "intolerance disguised as a faith", beobachtet in "Banemannen"/"The Garroter" die klaffende Schere zwischen Arm und Reich. Opeth rücken thematisch in zeitgemäßes Terrain und passen ihr Vokabular an. Sogar soziale Medien bekommen ihren Auftritt: "Finding friends in algorithms / Forgot the sound of my daughters voice", heißt es bei "De Närmast Sörjande"/"Next Of Kin".
Schon textlich wirkt "In Cauda Venenum" somit wie ein Theaterstück mit zahlreichen Kulissenwechseln, gerne innerhalb eines Songs. Musikalisch spiegeln Opeth diesen Trend und schaffen das bis dato wahrscheinlich bunteste Stilkabinett ihrer Karriere. Facettenreich spielten Opeth schon immer, doch selten außerhalb verschiedenster Schattierungen von Dunkelheit, Schwere und Melancholie. Dort sind sie auch jetzt fest verankert, brechen aber aus. Beschwingt jazzen sie durch das musicalhafte "Bannemannen"/"The Garroter". Åkerfeldt mimt den Crooner und Moritatensänger, Åkesson füllt die Gesangspausen mit verspielten Gitarrenlicks. Sie bündeln ihre Kräfte für ein grandioses Finale: Mit sorglosem "Didadu"-Gesang doppelt Åkerfeldt das Gitarrenlead und schlendert aus dem Song. Umso spaßiger wird diese simple, spielfreudige Idee, weil sie völlig unerwartet in der vorherrschenden Komplexität Opeths auftaucht.
Ein weiteres Vocal-Highlight steht in "Ingen Sanning Är Allas"/"Universal Truth". Im Refrain greift Åkerfeldt nach dem höchsten Rand seiner Range und schießt damit direkt in den Ohrwurm-Kanal. Ebenfalls ungewöhnlich für Opeth. Der Song lebt vom Kontrast zwischen feinfühligen Akustikgitarren- und Streicherparts und abrupten Eruptionen, zu denen die Band als Fokuspunkte immer wieder zurückführt.
Dass Åkerfeldt sich mit jedem neuen Album wohler mit seinem Klargesang fühlt, merkt man nicht zuletzt an solchen Ausflügen heraus aus der Komfortzone. Schon seit "Pale Communion" nutzt er seine Stimme als ein wichtiges Kompositionstool. So stark wie auf "In Cauda Venenum" band er sie aber noch nie ein. Oft übernimmt der Gesang, was früher Aufgabe der Gitarre gewesen war. So führt am Ende von "Kontinuerlig Drift"/"Continuum" eben keine mit Sustain vollgepackte Leadguitar aus dem Song, sondern ein sehnsüchtiges Singmotiv: "The river of time flows blind and ruthless" – was für eine Melodie! Außerdem wimmelt es vor verzahnten Vocal-Harmonien, "De Närmast Sörjande" beginnt mit einem vierstimmigen A-cappella-Chor inklusive rückwärts abgespielter Spur.
Åkerfeldts neues Paradestück gelingt mit "Svekets Prins"/"Dignity". Hier zeigt er am eindrucksvollsten, wie variantenreich er seinen Klargesang mittlerweile entwickelt hat. Von hauchzart über gritty mit heiserem Unterton bis zur hymnischen, vollklingenden Klimax wandert er. Zum Einstieg gibts euphorische Rufe, im Schlusspart folgt er zweistimmig einem komplizierten Riff. Mit der Kombination aus sonorer Bassstimme und dominanter, aber leicht sinistrer mittlerer Tonlage kreiert er eine einzigartig unheimliche Atmosphäre. Und, Achtung: War das etwa ein Growl? Naja nicht ganz, aber was Åkerfeldt zum Einstieg dieses Parts aus seiner Kehle wuchtet, klingt im Kontext heavier, als es gutturaler Gesang hier wahrscheinlich vermocht hätte.
Unweigerlich erinnert man sich in solchen Augenblicken an frühere Werke. Ob Absicht oder nicht: "In Cauda Venenum" wimmelt nur so vor Reminiszenzen. In "Svekets Prins"/"Dignity" zum Beispiel hört man deutliche Parallelen zu "Moon Above Sun Below" von "Pale Communion" und einen Nod zu "Burden" von "Watershed", "Charlatan" gemahnt zwischendurch an "Heir Apparent". Freilich finden sich auch viele Hinweise auf andere Künstler. Dass Åkerfeldt dazu neigt, sich offensichtliche Zitate anzueignen, ist längst kein Geheimnis mehr. So klingt der schleppende Rhythmus von "Allting Tar Slut"/"All Things Will Pass" wie eine Mischung aus Led Zeppelins "When The Levee Breaks" und "Kashmir", das sphärische Synthesizer-Intro "Livets Trädgård"/"Garden Of Earthly Delights" sitzt zwischen Tangerine Dream und Pink Floyds "On The Run".
Kein Witz: Die Pianoballade "Minnets Yta"/"Lovelorn Crime" erinnert zu Beginn frappierend an Manowars "Heart Of Steel". Mit einem triumphalen Heldenlied hat der Song (zum Glück) aber rein gar nichts zu tun. Eher steht er in der Tradition von Opeth-Balladen wie "Burden". Fredrik Åkesson veredelt den Song mit einem grandiosen Solo, das an Guthrie Govans Glanztaten in Diensten Steven Wilsons erinnert und locker gleiches Level erreicht. Åkesson gebührt auch das erste große Highlight der Platte: Im Opener "Svekets Prins"/"Dignity" stürzt er sich früh in ein Solo von ebenso herausragender Qualität.
Weniger im Fokus, aber nicht minder beeindruckend, zieht darunter Bassist Martin Mendez seine Lines. Er profitiert enorm von dem vollen Soundmix des neuen Co-Produzenten Stefan Boman. Mit viel Gespür für die Räume in den opulenten Arrangements baut er filigran-komplexe, stets unvorhersehbare Parts, immer darauf bedacht, damit im Zweifel eher andere Bausteine des Songs hervorzuheben als sich selbst in den Vordergrund zu spielen. Eine ähnliche Rolle kommt diesmal Joakim Svalberg zu. Obwohl der Keyboarder und Organist zum Beispiel in "Hjärtat Vet Nad Handen Gör"/"Heart In Hand" freidreht und einen psychedelischen Sturm entfesselt, hat er insgesamt weniger offensichtliche Solospots als noch auf den direkten Vorgängeralben.
Weiter nach vorne rückt dafür Martin Axenrot am Schlagzeug. Seine furiose Vorstellung in unter anderem dem hier schon oft erwähnten Keytrack "Hjärtat Vet Nad Handen Gör"/"Heart In Hand" lieferte nicht ohne Grund eins der Hauptgesprächsthemen der Journalisten bei der Presse-Listening-Session zum Album. Maßgeblich dank ihm mutiert das Stück zum aggressivsten seit Ende der Growling-Ära. Den Jazzausflug "Banemannen"/"The Garroter" meistert Axe ebenso problemlos und virtuos wie die schwierige Aufgabe, "Charlatan" trotz knorriger, tiefgestimmter Djent-Riffs ("Sorceress" lässt grüßen!) ein tänzelndes Feel zu verleihen.
Eine völlig neue Dimension schaffen Opeth ihren Kompositionen mit großflächigem Einsatz von Streichern in einigen Stücken. Diese rücken, anders als beim Symphonic Metal, nie ins Zentrum, sondern dienen der Band vielmehr als Rückenwind im Arrangement. Ornamental schlingen sich die orchestralen Elemente in "De Närmast Sörjande"/"Next Of Kin" um die Riffs und wiegen in "Ingen Sanning Är Allas"/"Universal Truth" in Sicherheit, bevor der Refrain explodiert. Im harmonieverliebten "Minnets Yta"/"Lovelorn Crime" dagegen sorgen sie recht klassisch für die zusätzliche Schicht Balladenpathos.
Opeth wollten mit "In Cauda Venenum" ihr epischstes Werk aufnehmen. Das ist definitiv gelungen. Nicht nur wegen der breitwandigen Arrangements, sondern vor allem, weil auf ihrem dreizehnten Album Elemente vorangegangener Werke in noch nicht gekannter Form verschmelzen. "In Cauda Venenum" hat die Spannweite von "Still Life", die moderne Heaviness von "Sorceress", die Folklore von "Heritage", die melodische Qualität von "Pale Communion", die Überraschungen von "Watershed", den brachialen, dennoch organischen Sound von "Ghost Reveries" und sogar atmosphärische Touches, die an "My Arms, Your Hearse" erinnern. Zugleich öffnet die Band Zellen in ihrem kreativen Schloss, von deren Existenz bis dato wohl nicht einmal sie selbst wussten.
So wirkt "In Cauda Venenum" gleichzeitig wie der krönende Abschluss einer Ära und wie das Tor zur Zukunft. Zweifellos bildet das Album ein neues Referenzwerk im Œuvre der Band. Ob es damit ihr Opus magnum ist, bleibt subjektiv und spielt eigentlich keine Rolle. Viel wichtiger: Opeth schaffen die nächste eigenständige Entität in ihrer beeindruckenden Diskographie.
22 Kommentare mit 24 Antworten
Bin ich noch nicht bereit dazu muss erstmal mit „The Hoffs“ Meisterwerk klarkommen
Es ist sehr gut
Gehört und 5/5
mich hat das Album begeistert ...Punkt
Ich tue mich schwer, wirklich schwer. Aber höre es mir bald live in Zürich an und dann zündet es hoffentllch. Das alte Opeth vermisse ich etwas.
Endlich wieder geil, auch wenn's noch nicht zündet. Aber für mich die Beste seit Ghost Reveries, holt mich wieder ab wie zuletzt 2005.
Ein Klischee nach dem anderen. Ich werde der Platte noch ein paar Chancen geben, aber die ersten zwei Male hat sie mich nicht überzeugt. Lateinischer Titel, ein naturalistisches Gemälde als Cover, das natürlich irgendwie nach „alte Zeit“ aussieht... Sorry, das ist einfach zu klischeehaft.
Aber vielleicht gibt es ja einen Grund für den lateinischen Titel. Vielleicht erzählt das Album ja eine Geschichte, die man nur mit einem Pferd und einem Brunnen und einem Haus als naturalistisches Gemälde erzählen kann.
Nach dem Einschalten stellt man vor allem fest, dass sie sich Mühe gegeben haben. Handwerklich ist alles extrem gut gemacht, super Arragements, Fredrik Åkessons Technik ist der Hammer, Mikael Åkerfeldt kann singen.
Aber es erfüllt einfach zu viele Klischees, um das Meisterwerk zu sein, das dieser Artikel hier beschreibt. Es steht (meiner bisherigen Einschätzung nach, und dieser Artikel hat nichts daran geändert) künstlerisch nichts dahinter, was diese oppulente Aufmachung rechtfertigen würde. Die hier als „neu“ bezeichneten Elemente wie Geräusch-Samples kennt man alle schon aus den 70ern. Natürlich muss ein „Meisterwerk“ nicht alles neu machen und das Rad neu erfinden, aber wenn Paul McCartney im Jahr 1968 mit dem Field-Recorder durch die Gegend zieht ist das halt was anderes, als wenn man das 2019 macht.
Es berührt mich auch nichts auf dem Album. Die Texte sind dafür zu künstlich dramatisch.
Sind aber tolle Musiker, und alles ist wie gesagt toll gemacht – würde das Album nicht so grundlos übertrieben hochgelobt werden, würde mein Review dazu wahrscheinlich besser ausfallen.