laut.de-Kritik
Wegweisendes Debüt der Godmother of Punk.
Review von Josef GasteigerWahl ist Qual. Ob man sich an Patti Smiths Debüt "Horses" nun auf dem Weg der grandiosen Lyrik nähert, über das ikonische Coverartwork, der historischen Bedeutung als Wegweiser für Punk oder ganz einfach über das klangliche Erlebnis: Alle Pfade treffen sich wieder zu einem grandiosen Album der Musikgeschichte, im Jahr 1975 in New York City. Dort trägt Patti Smith, gerade Mitte zwanzig, ihre Gedichte in Clubs und Cafes vor.
Unter vielen Gleichgesinnten zelebriert sie ihre Kunst, kreuzt Wege mit Fotografen, Malern, Dichtern und Musikern. Es war eine fruchtbare Zeit für kreative Geister in einer Umgebung, in der man schon mal Bob Dylan über den Weg laufen konnte. Nach und nach beginnt Smith, ihre Lesungen mit instrumentaler Musik zu unterlegen und verbindet so ihre manifestierte Abhängigkeit vom französischen Dichter Arthur Rimbaud mit dem etwas lauteren Zeitgeist New Yorks.
Gemeinsam mit Gitarrist Lenny Kaye, Pianist Richard Sohl, Bassist Ivan Krahl und Drummer Jay Dee Daugherty wachsen ihre Werke zu richtigen Performances in legendären Clubs, wie zum Beispiel dem CBGBs. Eine längere Reihe von Auftritten in diesem Club gewinnt auch die Herzen der Kritiker und schließlich einen Vertrag mit Arista Records von Plattenboss Clive Davies. So weit, so gut.
Die ehrenvolle Aufgabe, das Schaffen der Patti Smith Group auf ein Album zu bannen, hatte John Cale. Nicht zwingend wegen der Velvet Underground-Connection, sondern weil Smith der Sound der Cale-Platten gefiel. Überliefert von der Zusammenarbeit sind unzählige Kämpfe im Studio zwischen Band und Produzent, weil alle nicht genau wussten, wohin die Reise zu einer Platte gehen sollte.
Doch keine Partei gab auf, und schließlich eröffnen im Dezember 1975 sanfte Pianoakkorde das Debüt von Patti Smith mit dem Song "Gloria", Van Morrisons Garagenrock-Standardwerk. Natürlich nur lose (eigentlich nur im Chorus) an dessen Version angelehnt und mit eigenen Texten versehen, genügt der Song schon, um die Faszination an diesem Album in seinen Grundfesten zusammenzufassen. Eigentlich ist nach den ersten acht Worten schon alles klar.
"Jesus died for somebody's sins / but not mine". Ein Schuss, ein Treffer. Beifällig haucht die als Zeugin Jehovas erzogene Poetin die Silben, als ob sie es schon viel zu oft erklären musste, mit leicht bebendem Groll in der Stimme. Ein bestechender Einstieg für ein Debütalbum, für Patti jedoch nur der Startschuss. Nachdem sich die Band langsam dazu schleicht und der Groove lange genug im Schunkeltempo blubbert, ziehen sie plötzlich die Geschwindigkeit an, ganz als ob Smiths Vortrag nicht vom leichten Midtempo eingefangen werden kann.
Tatsächlich konnten Smiths Vocals weder von einer Band noch von ihr selbst kontrolliert oder besänftigt werden, was in der Folge "Horses" immer wieder beweist. Als Dichterin ist sie getrieben von ihren Texten, nimmt in ihrem Vortrag jede nur erdenkliche Rolle ein, singt und spricht aus allen Perspektiven, reizt ihre stimmlichen Möglichkeiten voll und ganz aus und legt nicht weniger als ihr ganzes Herz in jedes Wort. Eine Art explodierender Sprechgesang, sägend, übertrieben, quietschend, kreischend, wimmernd, betörend, und vor allem: bis dahin ungehört für eine ganze Generation frischer Künstler, die die Sechziger nicht mehr als ihr Jahrzehnt anerkennen konnten.
Exemplarisch für ihre Freiheit im Umgang mit dem Rock'n'Roll-Vermächtnis der damaligen Zeit stehen die beiden Grundpfeiler von "Horses", die neunminütigen "Birdland" und "Land". Bewusst als Showstopper platziert, zeigen die zwei Songs das außergewöhnliche Talent Patti Smiths, sich durch Kunst zu artikulieren.
"Birdland" ist ein klassischer Jam über eine einfache Pianofigur und Smith lässt sich einfach von ihrem Gefühl leiten und improvisiert neun Minuten lang den Text. Das Buch "The Book Of Dreams" von Peter Reich diente hier als Inspiration. Eine darin enthaltene Geschichte des Autoren als kleiner Junge, der über seinen verstorbenen Vater halluziniert, lässt die Sängerin nicht mehr los und legt den Grundstein für den Song mit dem Credo "He was not human".
Demgegenüber steht der Song "Land", in dem Patti erstmals die technischen Möglichkeiten des Studios stärker ausreizt. Einzelne Vocalspuren legen sich übereinander, sprechen im Kanon und fallen wieder in den Gleichschritt. Die Lautstärke schwillt an, und plötzlich springt die bedrohliche Szene um in einige Ausschnitte des R&B-Klassikers "Land Of Thousand Dances", bekannt durch die Aufzählung der zeitgenössischen Tänze jener Zeit, beispielsweise der "Mashed Potato", der "Alligator" oder der "Watusi". Bevor man die Merkwürdigkeit dieser Szene jedoch entschlüsselt, webt Patti wieder die anfängliche, sexuell aufgeladene Begegnung zweier Jungen ein. Eine musikalische und lyrische Tour de Force wie sie im Buche steht.
Lenny Kaye und die Band tun derweil ihr Bestes, einen möglichst facettenreichen instrumentalen Untersatz zu bauen. "Gloria" schrammelt mit rauen Gitarren und treibendem Schlagzeug in den hymnischen Chorus, auf "Redondo Beach" kippen sie die Erzählungen über eine angespülte Leiche in ein fluffiges Reggae-Bad. Auf dem neunminütigen, jazzig-balladesken und doch geräuschvollen "Birdland" schnauft die Band kollektiv dem Höhepunkt entgegen, dessen Piano-Mantra sich stets wiederholt und gekoppelt mit Pattis improvisierten Lyrics jeden Aufstieg und Fall in der Intensität mitmacht.
"Free Money" ist hingegen wieder ein lauter, treibender Rocksong, der sich vom ursprünglichen Tempo löst und dem Ruf des Geldes in ein klangliches Freak-Out folgt. "Kimberly" trägt eine luftige Bassline spazieren und klatscht in die Hände. Wie Patti beherrscht auch ihre Band die ganze Klaviatur der Stimmungen und Emotionen.
Wenige Monate, bevor die Ramones mit ihrem Debüt die Musikwelt ordentlich durcheinander wirbeln, entwickelt sich die Patti Smith Group schon gehörig weit weg vom weichgespülten FM-Rock der Westküste, hin zu einem roheren Bandsound, live eingespielt, ohne viele Overdubs. Die Wall of Sound entwickelte sich sozusagen zur Wall of Words.
Die Aufnahmen fanden in dem von Jimi Hendrix erdachten und erbauten Electric Lady-Studio statt. Ein Privileg, das Hendrix selbst im fertig gestellten Studio nie vergönnt war. Er starb drei Wochen nach der Eröffnungsparty, auf welcher Smith den Gitarristen auch persönlich kennen lernte, was ihrer Faszination für den Künstler noch mehr Nährboden gab.
Hendrix’ Einfluss schlägt sich auch musikalisch auf "Horses" nieder, auf der zweiten Seite wird er sogar erwähnt. "In the sheets / there was a man / dancing around / to a simple / rock'n'roll song" lauten die letzten Zeilen auf der neunminütigen Achterbahnfahrt "Land", die direkt den im Schlaf verstorbenen Hendrix ansprechen. Der Schlusspunkt "Elegie", von zartem Klavier und weinender Gitarre getragen, sei schließlich ein Requiem für den Künstler, wie Smith 30 Jahre später in einem Interview erklärte.
Es gäbe noch so viel zu erzählen über Patti Smith: Ihr Idolstatus für alle jungen Frauen, die sich in den folgenden Jahrzehnten mit Gitarre und Mikrofon auf Bühnen begeben sollten, ihr öffentliches Eintreten gegen Ungerechtigkeiten, ihre Malerei, ihre Partner und die Beziehung zu ihnen, die oft künstlerische und musikalische Projekte hervorbrachten. Aber eigentlich sagen die 43 Minuten auf "Horses" genügend aus.
Dieses Album veranlasste Michael Stipe, eine Band zu gründen. Morrissey coverte "Redondo Beach" regelmäßig. Klar, im popkulturellen Kontext kennt man Patti Smith vor allem wegen des Radio-Hits "Because The Night". Doch ihre Fäden des musikalischen Einflusses ziehen sich über die Grunge-Ära bis heute und können nicht hoch genug bewertet werden. Die von Patti Smith gelegte Saat, Dichtung und Rock'n'Roll zusammenzuführen, ist voll und ganz aufgegangen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
4 Kommentare
Sehr gute Rezension, und ein verdienter Meilenstein, kein Zweifel!
Das wir diesem Werk folglich R.E.M. zu verdanken haben, war mir persönlich neu. Das macht dieses Album noch interessanter!
Sehr schön!
sehr schönes album habt ihr da ausgewählt. fehlt nur noch das überfällige In the Court of the Crimson King oder Red und ich bin vollauf zufrieden.
Witzig, hab mir vor einer woche das Album geholt