laut.de-Kritik

Ohne Ego kein Charisma.

Review von

Ein sechssekündiger Solo-Bass startet den Killertrack. Sofort springt eine Meute aus Kreissägengitarre, Akustischer und Voodoo-Trommeln aus der Deckung. Alle Instrumente hetzen auf Koffein durch das Stück. Die Vocals verharren derweil andächtig entspannt. Alles kulminiert in einem der weltweit besten Refrains der 80er. "I Dedicate My Soul To You" ist der ultimative Einsteigertipp für Boa-Novizen und einer der besten Rocksongs aller Zeiten.

Typisch Phillip Boa: Wenn er eine Best Of-Scheibe plant, gibt es nicht ein oder zwei neue Alibi-Tracks zum Anfüttern. Stattdessen knallt der Wahlmalteser uns ein volles Dutzend neue Nummern um die Ohren. Als Beilage erhält man ein hochwertiges Booklet mit angenehm ausführlichen Liner-Notes sowie ausdrucksvollen Fotos. Der Focus von "Blank Expressions" ruht indes ganz und gar auf seiner schillernden - anhand von Singles aus 30 Jahren nachgezeichneten - Karriere. Das Ergebnis ist eines gebeugten Knies einmal mehr würdig.

Boas musikhistorische Bedeutung kann man nicht hoch genug einschätzen. National gehört er zu den wenigen großen Vordenkern wie Kraftwerk, Tangerine Dream, Can oder Neubauten. Für die europäische D.I.Y- und Alternative-Kultur ist das Boa-Segment ab 1985 so wichtig wie etwa auch Bauhaus, New Model Army und Co.

Das nur auf den ersten Blick krude wirkende Mischung aus gerecktem Low-Fi-Stinkefinger, unnachahmlich individuellem Soundbild und großer Geste macht ihn zum Unikat. Sein Naturell, in dem das wild knurrende Tier durchweg nachhörbar mit dem filigranen Denker ringt, verleiht ihm zusätzlich die Position des Missing Links zwischen Independent-Rock und Edelpop. Fatbanger!

Genau diese seltene Gabe wird anhand der Singles in höchstem Maße offenkundig. Man fragt sich unwillkürlich, weshalb Boa ausgerechnet in Deutschland die mediale Anerkennung bis weit ins Internet-Zeitalter flächendeckend versagt blieb. All zu lang belächelte man ihn als skurrilen Ersatz-Bowie oder warf ihm elbstverliebte Arroganz vor. Solche Ignoranz verkannte stets, dass Künstler keine Diplomaten sind. Boas gelegentlich manisches Auftreten und der tief wurzelnde Zorn eines von der Welt enttäuschten Romantikers sind in Wahrheit unabdingbare Antriebsfeder dieser von A bis Z einmaligen Musik. "There's a goldmine in my mind. (...) Oh, I just have to find it. Fine art in silver!"

Doch selbst dieses Naturell hätte als Motor niemals Perlen wie "Container Love" hervorgebracht, gäbe es zum maskulinen Yin nicht das weibliche Yang. Die großartige Pia Lund war als Chanteuse stets mehr als lediglich ein Sidekick. Besonders die Gegensätzlichkeit beider in Kunst wie im Leben komplettiert Boas Musik als ewigen Seiltänzerlauf zwischen notwendigem Kontrast und ergänzender Harmonie. Zu den großen Paaren der Popkultur - Gainsbourg & Birkin, Sinatra & Hazlewood oder The Cramps - gehören mithin auch Phil & Pia.

Besonders deutlich zeigt sich dies in den hier vertretenen Nummern "And Then She Kissed Her", "Deep In Velvet" oder "Love On Sale". Pia Lund erobert diese zeitlosen Melodien und krönt sie mit jener Grandezza, die nur Künstlerinnen drauf haben, bei denen man nicht von "Sängerin", sondern von "Chanteuse" spricht.

Bei so viel Superlative stellt sich die Frage, ob die neuen Lieder mithalten können. Einigen Songs gelingt es. Zwar gibt es hie und da Momente, die für Boa-Verhältnisse eher routiniert und "ok" geraten ( etwa "Broke & Sons"). Stücke wie "Twisted Star" zeigen den gebürtigen Dortmunder (samt Producer und Co-Composer David Vella) hingegen in Hochform. Besonders schön: Die gelegentlich zu hörende Gitarre von Oliver Klemm, einer Hälfte des Duos Sankt Otten.

Einen erheblichen Wermutstropfen gibt es dennoch - die Pia-Vocals fehlen hier. Nun ist dies der Lauf der Dinge. Leider setzt der gute Phillip bei dieser Normativität des Faktischen auf eine halbherzige Lösung. Boa: "Das Problem ist, dass eine Sängerin generell ein ausgeprägtes Ego haben muss, Ansprüche stellt, Hierarchien brechen will. Und genau so eine Sängerin wollten wir halt nicht. Wir respektieren solch eine Haltung auch, sie würde den Voodooclub aber auseinandersprengen. Wir suchen also nach einer Person, die zunächst noch kein Ego hat."

Doch ohne Ego kein Charisma; erst recht keine Individualität. Der hier gebotene Mittelweg ist keine Hilfe. Im Gegenteil: Die mit "Nadine" etikettierten Vocals geraten handwerklich makellos und professionell, aber verfügen über keinerlei Erkennungswert oder Charakter. Die mit "Pris" eingesungenen Songs scheinen ausbaufähig, kranken jedoch - gänzlich identitätsbefreit - am erkennbar versuchten Klonen der Lund-Stimme. Solange Boa hier an falscher Stelle Kompromisse macht, verzichtet er ohne Not auf einen hohen Prozentsatz der eigenen Strahlkraft.

Trackliste

CD 1: Singles 1986 - 2016

  1. 1. This Is Michael
  2. 2. Loyalty
  3. 3. I Dedicate My Soul To You
  4. 4. Fine Art In Silver
  5. 5. Twisted Star
  6. 6. Love On Sale
  7. 7. Annie Flies The Lovebomber
  8. 8. Standing Blinded On The Rooftops
  9. 9. Albert Is A Headbanger
  10. 10. Bells Of Sweetness
  11. 11. Kill Your Ideals
  12. 12. Deep In Velvet
  13. 13. Diamonds Fall
  14. 14. Atlantic Claire
  15. 15. Container Love
  16. 16. Rome In The Rain
  17. 17. Til The Day We Are Both Forgotten
  18. 18. And Then She Kissed Her
  19. 19. Kiss My Soul - Boa, Phillip

CD 2: Fresco - A Collection Of 12 New Songs

  1. 1. Death Is A Woman
  2. 2. Broke & Sons
  3. 3. Against The Sun
  4. 4. Twisted Star
  5. 5. Wanna No No
  6. 6. Sisters Under The Sea
  7. 7. Blackout
  8. 8. Porno Nails
  9. 9. This Pain
  10. 10. Kill Your Vacation
  11. 11. Le Brigadier

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