laut.de-Kritik

Anfang und Ende des Machbaren zugleich.

Review von

Nein, Angst vor einer weißen Seite kann man Steven Wilson nicht attestieren. Der sowohl als Produzent, Solokünstler und Restaurator großer Namen bekannte Ausnahmekönner steckt in einem ungebrochenen kreativen Flow. Ob man auch bei "The Future Bites" oder "To The Bone" seiner künstlerischen Diktion folgt, sei dahingestellt.

Der 56-jährige setzt seine musikalische Vision konsequent um und nimmt dabei wenig Rücksicht auf die Business-Gepflogenheiten. Die deutlich dem Pop zugewandte Machart seines letzten Soloalbums verbunden mit dem bereits 2017 geäußerten Wunsch, der nächste Prince sein zu wollen, mag weiterhin seine weiteren Entscheidungen beeinflussen. Und doch steigt der Träger des schwarzen Prog-Gürtels in den Delorean und rast "Back to the future" in die eigene Vergangenheit.

Dass die britische Prog-Legende Porcupine Tree aus dem künstlichen Koma erwacht, hätten nur die wenigsten erwartet. "Closure/Continuation" liefert den Beweis, dass die Herren Wilson, Harrison, Barbieri in der Zeit seit The Incident (2009) nicht untätig gewesen sind. Im Lockdown finalisiert, trafen Wilson, Barbieri und Harrison in den Jahren davor immer wieder zusammen.

Die Platte eint das fantastische Zusammenspiel, das mehr als die Summe der einzelnen Teile darstellt. Gleichzeitig bildet der lange Zeitraum der Entstehung von zehn Jahren die immense Vielfalt der Gruppe ab von melodisch-balladesk ("Of The New Day"), metallisch-vertrackt ("Rats Return") bis hin zu progressiv-pompös ("Chimera's Wreck").

Die Soundscapes und Texturen von Tastengenius und Ex-Japan Keyboarder Richard Barbieri sind Nerdy By Nature und klingen für sich genommen wie Signale aus fernen Welten. Die zusätzlichen Ebenen - man beachte nur die Sounds während der Strophen von "Of The New Day" - erweitern das Klang-Spektrum immens.

Für Gavin Harrison noch einen Drumstick zu brechen, erscheint angesichts seines überweltlichen Spiels müßig. Ob bei King Crimson, Pineapple Thief oder aktuell wieder Porcupine Tree, sein Spiel hebt die Songs auf eine andere kreative Ebene, gerade weil er mit seinem rhythmischen Verständnis mehr denn je in das Songwriting involviert ist. Auch hier bietet sich "Of The New Day" als Beispiel an: Wer bekommt alle Taktarten dieser vierminütigen und dennoch wie in einem Guss wirkenden Ballade zusammen?

Dass Colin Edwin nicht mehr Teil der Band ist, verändert den Klang der nurmehr als Trio agierenden Gruppe geringfügig. Wilson übernimmt das Langholz selbst und spielt perkussiver. Aber aufgebasst: Der größte Unterschied besteht wohl darin, dass der Bass häufig das tragende Element im Songwriting darstellt wie im Opener "Harridan", dessen Tieftonfolge klingt, als hätten Lemmy Kilmister und Geddy Lee mehr als tiefe Blicke ausgetauscht.

Die Gitarre im Schrank bleibt bei "Walk The Plank", einer Nummer, die insbesondere in den Strophen auch auf "The Future Bites" ihren Platz gefunden hätte. Der Refrain wartet mit einigen tollen Harmonien auf und zeigt Wilsons Weiterentwicklung als Sänger, da er hier eine ungewohnt kantige Note zeigt.

"Chimera's Wreck" erinnert in Sachen Sound und Songwriting an Wilsons Soloarbeiten zu Zeiten von "Grace For Drowning" und "The Raven That Refused To Sing" und ebenfalls an die Kollaboration mit Mikael Åkerfeld in Form von Storm Corrosion. Eine Rush-Mittelteil inklusive Alex Lifeson-Gedächtnis-Solo komplettiert das Prog-Fest, bevor die Band alle Fäden zusammenbindet und in einem stoischen Mosh-Part münden lässt, der wiederum an die zweite Hälfte von "Arriving Somewhere, But Not Here" erinnert.

Das bekömmlichste Futter platziert das außergewöhnliche Trio als Bonus Tracks, wobei 99% aller Bands ihre Schwiegermutter, die Kronjuwelen oder was sonst so unverzichtbar scheint, hergeben würden, um Songs eines solchen Formates ihr eigen zu nennen. "Love In The Past Tense" mit seiner folkigen Introduktion und dem floydig schwelgerischen Mittelteil sowie das poppig-hypnotische "Never Have" stehen auf Augenhöhe mit den Hook-Hämmern auf "In Absentia" und "Lightbulb Sun".

Durch die Wolkendecke schießen die Herren mit der Ballade "Dignity", dessen perlende Arpeggien wiederum Rush zitieren. Daneben drückt das Mellotron ordentlich auf die Tränendrüse. Als harten Kontrast platziert das Trio vor diese Zuckernummer das harsche Riff-Fest "Rats Return", in dem Wilson eine sicherlich nicht abschließende Aufzählung namhafter Diktatoren vornimmt.

In Abwesenheit sämtlicher Erwartungen konzipieren Porcupine Tree eine faszinierende Songkollektion. Ohne konzeptuelle Leitplanken wie auf "The Incident" oder musikalische Kohärenz wie bei "In Absentia" beschreibt "Closure/Continuation" Anfang und Ende des Machbaren zugleich mit einer überbordenden Vielfalt dazwischen. Wobei mir persönlich der zweite Teil des Albumtitels mit Blick auf die Band-Entwicklung mehr schmecken würde.

Trackliste

  1. 1. Harridan
  2. 2. Of The New Day
  3. 3. Rats Return
  4. 4. Dignity
  5. 5. Herd Culling
  6. 6. Walk The Plank
  7. 7. Chimera's Wreck
  8. 8. Love In The Past Tense (Bonus Track)
  9. 9. Never Have (Bonus Track)
  10. 10. Population Three (Bonus Track)

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Porcupine Tree

Ähnlich bescheuert wie Fredl Fesels humoresker Ausflug in das tragische Leben des Stachelschweins beginnt auch die Geschichte der Band Porcupine Tree …

16 Kommentare mit 21 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Hab das Album noch nicht gehört, aber bei soviel lobenden Worten - warum dann nur 4 Punkte, was fehlt?

    • Vor einem Jahr

      Ein Rezensent der nicht einfach seine Muster abspult.

    • Vor einem Jahr

      Die Songs. Wenn du dir frühere PT-Alben anhörst, merkst du, dass die Songs alleine schon im Ohr bleiben und was drauf haben. Auf dem Nievau ist dieses Album nicht. Das Album hier ist voller Zitate, Erinnerungen an vergangene Tage. Zu seiner besten Zeit war Porcupine Tree vom Sound her innovativ und am Puls der Zeit, und bettete die Retro-Elemente gekonnt in diesen Sound und die Songs ein.

      Das Album hier schmeckt zu sehr nach Neo-Prog und Grace for Drowning, um auf dem gleichen Level zu sein.

      Erst, als ich Interviews dazu gelsen habe, wie das Album entstanden ist, hab ich es verstanden. Anders als früher stand nicht das Songwriting im Vordergrund, sondern Jamsessions, aus denen dann später Songs zusammengeschustert worden sind.

      Ich sehe das Album mehr als Findungs-Experiment für einen neuen Sound. In einem Interview meinte Steven, dass das zukünfitge Porcupine Tree mehr so klingen könnte wie "Walk the Plank". Das fänd ich durchaus spannend.

      Denn Songwriting hat der Steven durchaus noch drauf. Auf "To The Bone" und "The Future Bites" waren durchaus Songs, die man mit Gavin und Richard zu Porcupine-Tree-Songs hätte ausarbeiten können, die den Namen verdienen.

    • Vor einem Jahr

      Hab das Album jetzt auch gehört und bin happy, dass es was neues von ihnen gibt. Allerdings wäre ich aktuell auch noch bei 4 statt 5 Punkten. Es ist tatsächlich ein Mix aus allem was sie vorher gemacht haben plus vielleicht etwas Synthspielereien mehr. Ob es noch 5 werden wird auch daran liegen, wie sehr die Melodien am Ende verfangen. Denn das ist für mich immer die große Stärke und leider auch die Schwäche des letzen Solo-Albums von Steven Wilson gewesen.

  • Vor einem Jahr

    Dieser Kommentar wurde vor einem Jahr durch den Autor entfernt.

  • Vor einem Jahr

    Exakt - warum VIER? Ich meine: VIER??? What?!?!? Glasklare FÜNF! Zudem grandios produziert und mit absolutem Referenzsound (SO geht Dynamik!).

  • Vor einem Jahr

    Freue mich schon auf den Live-Gig in Zürich. Tolles Album, man kann einfach nur den Drums lauschen, so gut.

  • Vor einem Jahr

    Wilson gilt als erneuerer des Prog.Rock. Für mich ist er eher ein Sargnagel. Wohlwollende knappe 3 Sterne, wenn überhaupt.

  • Vor einem Jahr

    Referenzsound am Schlagzeug, ja. Dynamik, ja. Jedoch, gerade bei den härteren Parts rückt selbst Wilsons Gesang in den fernen Hintergrund, während glasklar und vordergründig einzig das Schlagzeug bleibt. Mhm. Klanglich finde ich die Platte daher ambitioniert, aber im Detail eben doch weit weg von grandios.

    Was das Songwriting betrifft, glänzt vor allem die erste Hälfte. Die Riffs sind heiß und frickelig, die Hooks sitzen, die Atmosphäre ist grandios. Eine geradezu mitreißende Hörerfahrung. Ab Hälfte zwo sinkt das Niveau jedoch merklich. Dort langweilen mich die fast durchgängig, melodisch schwachen Gesangsparts. Mal beliebig, mal allzu vorhersehbar. Und auch inhaltlich sind die Songs dort mehr Fragezeichen als Aussagen, eher unkonkret als direkt, textlich aber stets mit nörgeligem Unterton. Einzig Gavin Harrisons Spiel vermag hier noch Reize zu versprühen, wenngleich auch hier das Niveau der ersten Albumhälfte verfehlt wird.

    Sicherlich sind dieses Jahr viele deutlich langweiligere Platten erschienen, aber weder das Songwriting noch der Sound sind konstant in der Ausnahmeklasse, welche die Platte in Momenten, namentlich bis einschließlich "Herd Culling" in der ersten Hälfte hat. Danach gerät die Platte zu sehr ins Fahrwasser, eine etwas uninspirierte SW-Solotat zu sein.