laut.de-Kritik
Neues Material vom Visionär des Reggae.
Review von Philipp KauseAuf Protoje ruhten in den 2010ern die Hoffnungen des Reggae-Business, er löste viel aus und hatte große Ambitionen. Deshalb holte er Sony Music zu Hilfe, drittgrößte Plattenfirma der Welt, die seit Diana King dem Reggae abgeschworen hatte. Nur dass auch Sony nichts an Corona ändern kann. Somit ist "In Search Of Lost Time", eines der meist erwarteten Reggae-Alben des Jahres, weltweit weder auf Vinyl noch auf CD erhältlich, sondern nur im Stream.
Bei dem Jamaikaner drehten sich alle Albumtitel um Zeit; Zeitsignale waren "7 Year Itch" - mit diesem Mixtape startete er -, "The 8 Years Affair", "Ancient Future", "A Matter Of Time" und nun ist es "In Search Of Lost Time", "auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Hat er Zeit verloren? Ja, haben aber alle. In Deutschland sprang niemand in die Lücke, die Seeed mit ihren fast acht Jahren Pause ließen und Nosliw mit seinem Abgang klaffen ließ. Doch halt, einmal ging es ja sehr zügig: Bei Koffee! Sie stieg mit 19 zum Hype auf und ist eine von vier Gästen bei Protoje. Die vier Featured Acts markieren die Eckpunkte, zwischen denen sich das Segment Roots-Reggae/Ragga/Dancehall heute sortiert.
Koffee ist 19 Jahre jünger als Protoje. Hier, in "Switch It Up (feat. Koffee)", erkennt man ihre Stimme nur, wenn man sie schon länger verfolgt. Sie gehe mit dem Flow, meint sie im Text, und sie drückt viele Wörter in ein paar Sekunden, Protoje dito; die beiden elaborieren feinstes Sing-Jaying. Die Bässe rollen ganz nett, aber für jamaikanische Verhältnisse abgeschliffen und auf (leichter verkäuflichen) Latin gezogen. Trappige Billig-Beats und viele kleine Soundeffekte mischen sich halbwegs geschmackvoll dazwischen, aber in der Summe findet der Song nicht in seine Dramaturgie rein und wirkt wie eine Skizze, ein mediokrer Remix, der mittendrin abreißt. Erinnert an Major Lazer und die Walshy Fire-Koffee-Kollabos.
Lila Iké steht für die noch immer währende Suche nach dem neuen Bob Marley, der charismatischen Leitfigur mit Botschaften. Protoje ist ihr Mentor, und er sieht in Lila eine Reinkarnation von Garnett Silk, und in dem wiederum sahen viele in den 90ern den neuen Bob. Lila recycelt Rub-a-Dub, raue Sounds der frühen 80er, auf "In Bloom (feat. Lila Iké)" steht sie im Mittelpunkt und rückt aus dem Background in die Rampensau-Position vor. Der Song ist ihre Ballade, ihr Fame-Track, in den Protoje noch ein paar Zeilen einfügt. Der Soul ihrer Stimme saugt Aufmerksamkeit für dieses magische, schwermütige Lied, das kein Reggae, aber sehr schön ist.
Wiz Khalifa repräsentiert zweierlei: Pennsylvania, Großraum US-East Coast, dort wollen sie (fast) alle hin, die Jamaikaner*innen. Zum anderen steht der smoothe Rapper für Smokers-Fraktion im Hip Hop, die sonnigen Vibes im Rap, während Protoje eben auch gerne und oft einen Joint zieht und sowieso einst mit Rappen angefangen hat. "A Vibe (feat. Wiz Khalifa)" profitiert von DJ-Soundeffekten, einem langsamen Grundrhythmus, pumpenden Hip Hop-Bässen und einer Abhandlung über die beiden Ebenen: die Drogen-Gangs zum Einen, das private Entspannen zum Anderen.
"Weed And Ting" schlägt in dieselbe Kerbe, versucht Trap und Roots so zu kreuzen, dass es nach Saint Elizabeth klingt, dem Südwesten Jamaikas, auf den der heimatverbundene Sänger gerne referiert. Der Sound: Nicht schlecht, lässig, mit guten Reime, akzeptablen Beats, positiver Stimmung, etwas verträumt, aber doch ziellos, für Protojes Verhältnisse belanglos. Seine crémig-warme Stimme rettet darüber hinweg.
Der Vierte im Bunde der Gäste, Popcaan, ist der mainstreamigste Dancehaller unserer Tage, blubbert samtweichen Pop mit einer verblassenden Erinnerung an das Spitten und Toasten, das Dancehall auch sein kann.
Als Höhepunkt fällt trotz der Rezeptur 'Hip Hop-Beats-mit-poppigen-Synthie-Flächen' dann "Deliverance" auf. Die einzigen wirklich nach tiefem, echtem Protoje klingenden Tracks sind "Same So" (mit seiner sanften Seite) und das stompende "Self Defense". Auf letzterem Track entsteht auch wieder der Eindruck, dass der Mann vor Sozialkritik übersprudelt. Auch seine Markenzeichen, dass das ganze Stück wie eine Strophe wirkt, die Bässe beben und dazu gelegentlich Keyboard-Tonleitern chromatisch abwärts pling-plingen, streicht der Künstler hier wieder breit auf.
Was das Album aus der Indifferenz herausreißt, ist "Strange Happenings": Der Tune beginnt, als wolle er ein Unplugged sein. Sobald man sich an die Akustikgitarre und das Reduzierte gewöhnt, setzt ein Bass ein, der nun wirklich alles untergräbt, und trotzdem für ein paar Keyboard- und Bläser-Verzierungen, soulige Background Vocals und den richtig guten Text Platz macht. Protoje setzt bei seinem Papa ein, und erzählt von seinem Traum, anerkannte Musik zu machen. "Strange Happenings" erzeugt wirklich starke Vibes, spielt seinen ansteckenden Rhythmus auch über eine lange Instrumentalstrecke aus und macht nachvollziehbar, dass Protoje nicht irgendeiner dieser Wichtigtuer ist, die ihren eigenen Namen auf Platte lesen wollen, sondern ein Visionär, der sich, seine Insel und sein Genre immer wieder selbst reflektiert.
"Go with the flow", so lernt man hier, hat seine zwei Seiten: Einen sprachlichen 'Flow' rollen die Songs aus, die glatt polierte Musik bremst aber stellenweise den Groove, besonders wenn "Flow" in der Spotify-Parallelwelt vintage und trappig heißt, diese seltsame Mischung aus kaputt und aalglatt. "In Search Of Lost Time" hat seine Stärken, aber bei diesem tollen Artist ginge mehr, ganz sicher, denn das hat er oft genug bewiesen!
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