laut.de-Kritik
Mittendrin im Britpop und doch irgendwo ganz anders.
Review von Vicky ButscherBritpop, das ist für die meisten die Pub-Seligkeit großer Oasis-Hymnen. Pulp hingegen arbeiten schon seit 1978 am Gegenentwurf zum biergeschwängerten Mitgrölsong. Natürlich hatte auch die Band um Sänger Jarvis Cocker mit "Disco 2000" ihren Studentenparty-Hit. Wesentlich wichtiger für ihre Alben sind jedoch nicht einzelne Songs, sondern das Gesamtkonzept.
Das 1995 erschienene "Different Class" verschreibt sich der Sicht der oberen Mittelschicht auf die Arbeiterklasse und skizziert darin existierende verschrobene und verworrene Beziehungsgeflechte. Immer genau beobachtet und pointiert in Worte gefasst. Dabei nimmt Jarvis Cocker in seinen geistreichen Lyrics die eigene Klasse ins Visier, auch wenn er es "Different Class" nennt. Hier ist jede Zeile ein Slogan, und wem das nicht reicht, dem sagt das Booklet, wo's lang geht: "Please understand. We don't want no trouble. We just want the right to be different. That's all."
Auch wenn "Disco 2000" ihr Party-Smash-Hit bleiben wird, "Common People" fasst das Album in einem Song zusammen: "I want to sleep with common people like you". Dieser Song stellt - wie das komplette Album - dar, wie wenig sich die meisten wirklich in die "Different Class" einfühlen können. Verstehen, worum es wirklich geht? "But she didn't understand, she just smiled and held my hand".
Musikalisch sind Pulp meilenweit von dem entfernt, was der Hörer nach Oasis oder Blur von Britpop erwartet. Natürlich dominieren auch hier die eingängigen Melodien, doch wesentlich differenzierter. Sicher ist einer der Gründe dafür die schiere Größe der Band: Sechs Mitglieder arbeiten hier am Soundgebilde. Keyboarderin Candida Doyle fügt eine Klangschicht hinzu, die den anderen großen Britpop-Bands fehlt.
Die Klassiker "Disco 2000" und "Common People" kennt wohl jeder, doch plötzlich kommt ein "Sorted For E's & Wizz" daher, das komplett mit den Strukturen des klassisch britischen Gitarren-Popsongs bricht, der vielmehr Psychedelik Einlass gewährt und die Erzählung über eine Nacht auf einem Rave in den Feldern von Hampshire perfekt vertont: "What if you never come down". Auch das darauf folgende "F.E.E.L.I.N.G.C.A.L.L.E.D.L.O.V.E" besticht mit seinem depressiven Beginn und den musikalischen Ausbrüchen im Refrain, die den Hörer ankeifen, um in eine wogende Passage überzuleiten ... nur um diese im Anschluss mit dem laut gedrehten Flüsterton Cockers zu zerstören.
Die heimlichen Hits des Albums sind allerdings "Something Changed" und "Underwear". Zwei moderne, clevere Schwoof-Songs: "Underwear" schwingt lasziv über Songzeilen wie "If fashion is your trade / then when you're naked / I guess you must be unemployed". Jarvis Cocker ändert Tonfall und Klang seiner Stimme im Verlauf des Songs so heftig, dass ein Zwiegespräch mit sich selbst entsteht. Auf dem dunkel-melancholischen "Something Changed" mit seinen tragisch-traurigen Streicher-Arrangements landet seine Stimme in der für ihn so typischen monotonen Tiefe - ohne das Gefühlvolle, das ihr sonst so eigen ist, zu verlieren.
Vor allem ist es die Stimme Jarvis Cockers, die in ihrer Ausdifferenziertheit die Inhalte auf dem Album so präzise wiedergibt. Zwischen smoother Lieblichkeit, lautem Flüster-Ton, Kopfstimme und Zeilen, die mal wütend, mal spöttisch herausgerotzt klingen, wechselt ihr Klang.
"Different Class" hebt sich mit seiner Raffinesse von den anderen großen Alben seiner Zeit ab und hat damals den Mercury Prize – die wichtigste britische Musik-Auszeichnung - mehr als verdient gewonnen. In diesem Sinne: "Is this the way the future's meant to be?"
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
11 Kommentare
Geilnstein, vicky, absolut!
wenn sie ihr großartiges "razzamatazz nur hier drauf gepackt hätten. es wäre ein absoluter stein der weisen.
kenn ich gar nich... anwalt sagt reinhören... ich werde reinhören^^
Bei Pulp hätte ich wohl eher "This is Hardcore" gewählt, aber "Different Class" geht auch in Ordnung. Die Jungs haben eben einige hochklassige Arbeiten abgeliefert.
Meiner Meinung nach die beste Band aus dem Brit Pop-Genre (und sicher um zwei Klassen besser als Oasis).
Weltklasse. Aber `This is Hardcore`nicht vergessen.
Cockers oft hochgelobte Texte finde ich hier stellenweise schon recht creepy (zB Pencil Skirt, I Spy). Irgendwie schwer vorstellbar, dass der damit in Verbindung mit seinem Gehauche echt mal zum Sexsymbol avanciert sein soll, wie es in der Bio heißt. Naja, müsste man vll. damals dabei gewesen sein.
Album sowieso trotzdem 5/5, weil HitsHitsHits. Hardcore & (ggf) Co setz ich mir mal auf die Liste...
"Common people" ist Gott.