laut.de-Kritik

The Wall oder Tommy? Das Codewort lautet: Mindcrime.

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Dreißig Jahre alt zu sein, bedeutet häufig schütteres Haar und 40 Jahre warten auf die Rente. Zumindest für Fans aus dem Metal-Genre, Alben altern zum Glück anders. Werke wie "...And Justice For All", "Seventh Son Of A Seventh Son" oder "South Of Heaven" haben bislang kaum Staub beziehungsweise Rost angesetzt. Der unbestrittene Klassiker der Klasse von 1988 heißt jedoch "Operation: Mindcrime". Diese Platte stellt Queensrÿches Bindeglied zwischen der harten, progressiven Frühphase und den kommerziellen Artrock-Hochflügen in den Neunzigern dar. Viele Fans und Kritiker lehnen sich sicherlich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn sie den Musik-Thriller auf eine Stufe mit "The Wall" oder "Tommy" stellen.

Nach dem Ende der Tour zu "Rage For Order" gastierte Sänger Geoff Tate in Montreal bei Freunden. Eines Abends umwehte das Goldkehlchen ein Hauch von geistiger Eingebung, zu der ihn der Gesang aus einer katholischen Kirche inspirierte. In Windeseile skizzierte er die Umrisse des Konzepts. Die Grundlage zur Story von "Operation: Mindcrime" war geboren. Auch eine zwielichtige Spelunke voll politischer Revoluzzer machte mächtig Eindruck auf den Frontmann, der sich mit Mitte Zwanzig empfänglich für umstürzlerische Themen und Thesen zeigte. Generell griff Mr. Tate bereitwillig besondere biographische Situationen auf, um dem Grundgerüst aus Macht, Gehirnwäsche, Terrorismus, Drogen und Prostitution Leben einzuhauchen.

Die Platte ist eine unmittelbare Reaktion auf die neoliberale Wende in den Achtziger Jahren unter Thatcher und Reagan. Die Troika des Schreckens namens Deregulierung, Privatisierung und Sozialstaatsabbau und der sich daraus ergebende reißende Malmstrom für das Gros der Bevölkerung bieten eine klassenkämpferische Metaebene für das Konzept. Dabei bietet die Story mehr als nur Klassenkampf.

Der amnesische Hauptprotagonist findet sich im Krankenhaus wieder. Dann kehrt die Erinnerung trotz Gängelung einer in Anlehnung an Kuckucksnest-Oberschwester Ratched konzipierten Pflegedame wieder. Der junge, unzufriedene Drogenjunkie Nikki gerät in die Fänge des manipulatorischen Dr. X. In seinem Auftrag begeht er Morde an hochrangigen Politikern, was ihm eine messianische Daseinsberechtigung verleiht. Das Codewort für die Morde lautet Mindcrime. Er trifft auf Mary, die vom korrupten Pfarrer William offiziell als Nonne geführt und inoffiziell als Prostituierte missbraucht wird, ein herrliches Beispiel für Doppelmoral. Den Pater räumt er eiskalt aus dem Weg, Mary zieht ihn hingegen in ihren Bann. Wenig verwunderlich, dass er sich der Anweisung seines dunklen Mentors Dr. X widersetzt, seine Liebste zu töten. In einem Anflug von Drogen und Konfusion findet Nikki Marys leblosen Körper vor und versteht die Welt nicht mehr. Hat er sie etwa auf dem Gewissen? Völlig außer sich negiert er alles, woran er glaubt und verliert endgültig den Blick für die Realität.

Als Antrieb von "Operation: Mindcrime" fungiert der organische Drive der NWOBHM im Stile von Iron Maiden und Judas Priest. Die artifizielle Theatralik des US-Metals im Sinne von Savatage oder Metal Church öffnet eine weitere Bühne. Auch die unwiderstehliche Catchyness der Hard- und Glam-Rocker wie Guns N' Roses und Mötley Crüe oder der plüschigen Kollegen von Bon Jovi und Journey hat das Album beeinflusst. Hinzu kommt der Zeitgeist der Achtziger mit der etwas sterilen, digitalen Produktion und der Verwendung typischer Synthies.

Das Konzept, das durch Storytelling auf drei Ebenen besticht (Klassenkampf, Lovestory, Macht und Manipulation), funktioniert aber auch als Song-Kompendium. Wer hat nicht schon in den Spiegel geschaut und in die "Eyes Of A Stranger" geblickt, voller Liebesschmerz dem Höchsten aller Gefühle abgeschworen ("I Don't Believe In Love") oder vor der anstehenden Gehaltsverhandlung mit dem Chef "Revolution Calling" aufgelegt?

Einzig einige triolische Soli wirken heutzutage ein wenig antiquiert. Ansonsten setzen Michael Wilton und Chris DeGarmo mit ihren Doppel-Leads, Riffs und Voicings Maßstäbe, die die Zeit überdauern. Die beiden federführenden Songwriter hauen mit genialen Einfällen nur so um sich. Die ganze Platte wirkt wie ein kompositorischer Rausch, so dicht und strukturiert, dass einem die Glückgefühle nur so aus Ohren rinnen. Alles wirkt perfekt aufeinander abgestimmt, selbst kleinste metrische Verschiebungen fügen sich organisch in die Mega-Maschine ein. Nichts bleibt dem Zufall überlassen.

Als Motor dieses Saitengelages treten Bassist Eddie Jackson und Drummer Scott "Rimshot" Rockenfield auf, der in Octopus-Manier stoischen Antrieb mit organischen Breaks verbindet und nebenbei das knalligste Ride-Becken ever serviert. Diesem magischen Theater steht als Master Of Ceremony Geoff "The Voice" Tate vor, der die Grandezza einer Operndiva, das Volumen eines Dickinson und den Unterbau eines Dio verbindet und somit akustisch-ikonisch für das gesamte Genre wirkt. Alles was an Sängern wie Dream Theaters James LaBrie nach ihm kommt, trägt unverkennbar seine Stimmband-Handschrift.

Produzent Peter Collins, der 1985 und 1987 für Rushs Synthie-Taten "Hold Your Fire" und "Power Windows" verantwortlich zeichnete, zieht glücklicherweise für das Knöpfchendrehen seine Plüschhandschuhe aus und ballt die Rockerfaust. Ganz fein auch heute bleibt die Epik des zentralen Longtracks "Suite Sister Mary". Dieses Stück, das die Shakespearsche Tragik um Schmerz und Verlust anbahnt, ist der von emotionalen Wogen umtoste Fels, der mit Chor und dezenter Orchestrierung das Beste der Harris-Longtracks, klassischer Kompositionskunst, Spoken-Word-Sequenzen und Broadway-Action vereint und den Weg in die Zukunft des Prog-Metals in alle Ewigkeit vorzeichnet. Allein das Chor-Arrangement von Michael Kamen bringt die gesamte emotionale Palette zum Ausdruck, der Pamela Moore mit ihren Göttinnen-Vocals die Krone aufsetzt. Dieses musikalische Drama bleibt bis heute unerreicht, auch wenn das Quintett dem Feeling dieser akustischen Gabe mit der kommerziell erfolgreichen Orchester-Ballade "Silent Lucidity" nahe kommt.

Queensrÿche hechelten häufig in ihrer Karriere dem Zeitgeist hinterher. Vor allem die Neunziger prägte eine große Volatilität von den schrägen Glam And Glitter-Synthies auf "Empire" bis hin zum Midtempo-Mellow-Grunge auf "Promised Land" und "Hear In The Now Frontier". Auf dem zweiten Teil von "Operation Mindcrime" singt übrigens Ronnie James Dio, womit zu diesem Stück Musik aber auch schon alles gesagt ist. Mittlerweile kopiert der Ami-Fünfer seine Achtziger-Hochphase ergänzt um zeitgemäße Produktionen. 1988 waren die Jungs aus Seattle ähnlich wie ihre Kollegen in zerschlissenen Jeans aus dem Summer Of 91 auf der Höhe der Zeit und legten auf dem kreativen Zenit ihr Meisterwerk vor.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. I Remember Now
  2. 2. Anarchy-X
  3. 3. Revolution Calling
  4. 4. Operation: Mindcrime
  5. 5. Speak
  6. 6. Spreading The Disease
  7. 7. The Mission
  8. 8. Suite Sister Mary
  9. 9. The Needle Lies
  10. 10. Electric Requiem
  11. 11. Breaking The Silence
  12. 12. I Don't Believe In Love
  13. 13. Waiting For 22
  14. 14. My Empty Room
  15. 15. Eyes Of A Stranger

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9 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 5 Jahren

    eine der besten Metalplatten aller zeiten. was waren die gut, als sie noch nicht zerstritten waren.
    als songs mochte ich zwar immer "silent lucidity" und das psychpathencover von dalbellos "I'm gonna get close to you" am liebsten. aber als album klingt "mindcrime" einfach ungechlagen.

    • Vor 2 Monaten

      Du hast absolut recht, für mich nach wie vor das beste Metalalbum aller Zeiten, vollkommen perfekt, musikalisch wie textlich. Eine Band auf ihrem kreativen Höhepunkt, der auch auf dem Nachfolger „Empire“ noch anhielt, genauso fantastisch, wenngleich vollkommen anders.

    • Vor 2 Monaten

      Hab sie als junger Stöpsel von einem Freund meiner Mutter gezeigt bekommen und mit der "Empire" kennenlernen dürfen, als diese frisch raus kam. Tu mich bis heute eher schwer mit dem in Fankreisen ziemlich einhellig anerkannten Meisterwerk davor, dem Weg dorthin sowie dem Weg von Empire fort bis ins heute... Selbst in ihren Splitterfragmenten und Folgeprojekten Post-"Original-QR" technisch in jedem Moment über jeden Zweifel erhaben imo, aber auf emotionaler Ebene hat's nach vielen Jahren und Versuchen nur dieses eine magische mal in der Kindheit Klick gemacht. Vermutlich, weil ich unmittelbar danach zum ersten mal einen Proberaum von innen gesehen habe und im Zuge dessen sogar erstmals und für ca. zweieinhalb Minuten auf ne verstärkte Gitarre kloppen durfte...

  • Vor 5 Jahren

    Eines der wenigen wirklich perfekten Alben.

  • Vor 5 Jahren

    Top-Album, nur die Namen der Charaktere sind nach wie vor bescheuert ...