laut.de-Kritik
Der flüsternde Gegenentwurf zu Grunge.
Review von Sven KabelitzAls R.E.M. am 5. April 1980 noch unter dem Namen Twisted Kites die Bühne der St. Mary's Episcopal Church in Athens betreten, dürfte weder ihnen noch dem Publikum klar gewesen sein, was für eine Karriere vor den vier schüchternen Jungs liegt. An den Eckpfeilern "Murmur" und "Document" vorbei entwickeln sie sich langsam aber unaufhörlich von der College-Band zum Alternative-Rock-Tipp, bis sie 1991 mit "Losing My Religion" und dem Album "Out Of Time" den endgültigen Durchbruch schaffen.
Mit dem wütenden, wie ein gerupftes Huhn wirkenden Michael Stipe der "Green"-Tour hat das Männlein, das nun wie eine Comicfigur an der Seite von Kate Pierson durch das Video zu "Shiny Happy People" hüpft, nur noch wenig gemeinsam. Im CD-Regal zwischen Tina Turners "Tina Live In Europe" und Phil Collins' "...But Seriously" angekommen, stellt sich für R.E.M. schnell die Frage, wie es von hier aus weiter gehen kann. Sie entschließen sich, mit "Out Of Time" nicht auf Tournee zu gehen, und konzentrieren sich stattdessen auf die Arbeiten am nächsten Album.
Währenddessen ziehen im weit von Athens entfernten Seattle dunkle Wolken auf. "Nevermind" explodiert und der mit Nirvana aufkommende Grunge weht den Mief der 1980er aus dem offenen Fenster. Innerhalb weniger Monate stellt sich die Musikszene auf den Kopf. Die Jugend sucht sich neue Helden.
Mitten in diesem Sturm veröffentlichen der damals noch mit Haupthaar ausgestattete Michael Stipe, Mike Mills, Peter Buck und Bill Berry nicht die laute, raue Platte, für die sie sich ursprünglich ins Studio zurück gezogen hatten. Die folgt erst zwei Jahre später mit dem umstrittenen "Monster". An seine Stelle tritt mit "Automatic For The People" ein flüsternder Gegenentwurf zu "Out Of Time" und Grunge. Ein beklemmender Monolith, dessen Themen sich zum großen Teil um Tod, Wiedergeburt, Schmerz, Verfall, Leid, Verlust und Depression drehen.
"Die Welt, in der wir groß geworden waren, war auf einmal verschwunden", erklärt Peter Buck die düstere Stimmung. "Hüsker Dü und The Replacements gehörten der Vergangenheit an. Wir waren nun an einem anderen Ort, und dies wirkte sich ebenso musikalisch wie auch in unseren Texten aus."
Aus marketingtechnischer Sicht machen R.E.M. alles falsch, nur um in diesem einen Moment doch alles richtig zu machen. Sie schaffen die Gratwanderung, wiederholen den kommerziellen Erfolg von "Out Of Time" und stellen ihn künstlerisch in den Schatten. Mehrfach von John Paul Jones' luxuriösen Streicher-Arrangements veredelt, entsteht ein schwarz gerahmtes Album, emotional direkt und zeitlos.
"Hey kids, rock and roll / Nobody tells you where to go, baby." Bereits das vorab veröffentliche "Drive", auf dessen B-Seite sich das gelungene Leonard Cohen-Cover "First We Take Manhattan" befindet, belegt die Abkehr von blumigen "Out Of Time"-Zeiten. Ein bedrohliches Puzzle, in dem R.E.M. unter anderem Versatzstücke von Pylons "Stop It", David Essexs "Rock On" und Bill Haleys "Rock Around The Clock" zu ihrem eigenen Gemälde zusammenfügen.
In Moll getragen, entwickelt der akustisch gehaltene Track mit überraschenden Gitarren-Querschlägern und anschwellenden Streichern eine dramatische Atmosphäre und schemenhafte Schönheit. Vollkommen ohne Refrain auskommend, gleicht "Drive" einer Party unter der betäubenden Wirkung von Antidepressiva. "What if I ride, what if you walk? / What if you rock around the clock? / Tick-tock, tick-tock."
"Try Not To Breathe" liefert ein gutes Beispiel dafür, warum unverbrauchte, berührende Texte das Sahnehäubchen eines Songs darstellen. Dem unbeschwert im Dreiviertel-Takt schunkelnden Folk stehen bittere, aber befremdend versöhnliche Worte entgegen, in denen ein alter Mensch seinem Leben ein Ende setzen möchte, um der Familie nicht weiter zur Last zu fallen. "I will try not to breathe / This decision is mine / I have lived a full life / And these are the eyes that I want you to remember."
Das sanft brummende "Sweetness Follows" erinnert uns daran, dass uns nur eine beschränkte Anzahl an Tagen auf diesem Planeten zur Verfügung stehen, die wir nicht leichtfertig mit sinnlosen Streitigkeiten und dem Ignorieren des Anderen verbringen sollten. Stipe meditiert über den Tod der Familie und ruft, begleitet von Bucks nagendem Gitarren-Feedback, dazu auf, Kriegsbeile zu begraben. "Ready to bury your father and your mother / What did you think when you lost another? / I used to wonder, why did you bother? / Distanced from one, blind to the other."
Das Folk-Stück "Monty Got A Raw Deal" verbindet Akkordeon, Mandoline und Mike Mills klaren Begleitgesang, der so viele R.E.M.-Songs vergoldet. Wie der ungezogene Bruder von "Losing My Religion", das schwarze Schaf in der Familie, erzählt das Lied vom Schauspieler Montgomery Clift, der in "The Misfits" mitspielte. Im psychedelisch tastenden "Star Me Kitten" macht der angenuschelte Text schnell klar, dass es hier keineswegs um Sterne geht. "You are wild / And I am your possession / ... So fuck me, kitten."
An "Everybody Hurts" scheiden sich die Geister. In den 1990ern auf MTV und in Filmen bis zum Exitus totgenudelt und mannigfach gecovert, fällt es schwer, den Song noch unbefleckt zu erleben. Auch Kylie Minogue, Miley Cyrus und die bezaubernde Dr. Amy Farrah Fowler konnten nicht die Finger von ihm lassen. Zur Verteidigung sei angebracht, dass R.E.M. ihn nur einmal geschrieben und aufgenommen haben.
Von jeglicher Befangenheit befreit, findet sich hier aber auch heute noch ein mit der Verletzlichkeit eines kleinen Kindes und der Geschmeidigkeit einer Roy Orbison-Schnulze ausgestattetes Glanzstück. Der für sich genommen sicherlich nicht stärkste Text des Albums ("Sometimes everything is wrong / Now it's time to sing along") verschmilzt mit ausgefuchstem Arrangement und eindringlichem Gesang zu ungeahnter emotionaler, fast schon abstoßender Tiefe. Als wolle er, dass jedes tröstliche Wort bis zu den Hoffnungslosen durchdringt, singt Michael Stipe ungewohnt deutlich. "When your day is long / And the night, the night is yours alone / When you're sure you've had enough / Of this life, well hang on."
Mit "Man On The Moon" startet "Automatic For The People" zu einem zeitlosen Endspurt, der zusammen mit "Nightswimming" und "Find The River" den Rest der Platte noch einmal deutlich überstrahlt. Prachtvoller als in diesen drei Stücken kann Aternative-Rock kaum klingen. Anmutiger kann ein Finale kaum ausfallen.
Im Mittelpunkt von "Man On The Moon" steht die melancholische Hommage an den amerikanische Entertainer und Performance-Künstler Andy Kaufman, der mit seinen anarchistischen Auftritten und Wrestling-Kämpfen gegen Frauen im Amerika der 1970er und 1980er für Aufsehen und Kopfschütteln sorgte. 1999 verhalf "Man On The Moon" dem Spielfilm über Andy Kaufmans Leben mit Jim Carrey in der Hauptrolle zu seinem Namen.
Mit Slide-Gitarre, behutsamen Versen und einem strahlenden, fast naiven Pop-Chorus bringt die Band die Annahme von einem fingierten Ableben des Anti-Humoristen mit den Verschwörungstheorien um die Mondlandung in Verbindung und macht sich über all die Alufolienhut-Träger da draußen lustig. Gleichzeitig stellen die Strophen eine Antwort auf Kurt Cobains Songwriting dar, in dem Stipe den Nirvana-Sänger in der Anzahl der untergebrachten Yeahs zu übertrumpfen versucht. Wenn Stipe dann seine kurze Kaufman-Imitation einer Elvis Presley-Imitation unterbringt, versprüht "Man On The Moon" auch noch kurzweilige Comic-Attitüde. "Hey Andy, are you goofing on Elvis? / Hey Baby, are we losing touch?"
Ein nachdenkliches Piano-Motiv, Violinen, Cello und eine Oboe verzaubern das nostalgische "Nightswimming". Eine flüchtige Erinnerung an die Verwundbarkeit der Jugend, die heute wie ein vergilbtes Polaroid-Foto wirkt. Eine idyllische Ode an unsere Sturm- und Drangphase, an unsere Zeit der Entdeckungen. Gleichzeitig beschreibt das Stück den Verlust der Leichtigkeit und Unbekümmertheit und den Versuch, sich verzweifelt an ihnen festzukrallen. "The fear of getting caught / The recklessness of water / They cannot see me naked / These things they go away / Replaced by every day."
"Früher haben wir uns auf das Eigentum eines Kerls in Athens geschlichen und sind in seinem Wasserloch geschwommen", erinnert sich Peter Buck. "Es war großartig. Wir waren gut 30 Jugendliche, und alle liefen nackt herum. Es war noch vor AIDS, und was passierte, passierte."
Die Umklammerung, die sich mit dem beengenden Opener "Drive" um uns schließt, öffnet sich mit dem versöhnlichen "Find The River", einem perfekten Ende zu diesem außergewöhnlichen Album. Vorsichtig optimistisch lebt der Schlusspunkt von seiner charakteristischen Melodica-Melodie und Mike Mills' luftigen Harmonien. Mit hoffnungsvollen Worten entlässt uns das dunkle "Automatic For The People" zurück in unser Leben. "Pick up here and chase the ride / The river empties to the tide / All of this is coming your way."
Im Januar 1994 erzählt ein 26 Jahre junger Mann mit blonden Haarsträhnen in seinem letzten Interview mit dem Rolling Stone von der Zukunft seiner Band Nirvana: "Ich weiß, dass in uns noch mindestens ein Album steckt und ich habe eine ziemlich genaue Idee, wie es klingt. Sehr ätherisch, akustisch, wie das letzte R.E.M-Album 'Automatic For The People'. Wenn ich nur ein paar Songs schreiben könnte, die so gut wie ihre wären ... Ich weiß nicht, wie die Band das macht, was sie tut. Gott, sie sind die Größten. Sie gehen mit ihrem Erfolg wie Heilige um, und sie schreiben weiterhin großartige Musik."
Am 5. April 1994, auf den Tag genau vierzehn Jahre nach dem ersten R.E.M.-Auftritt, nimmt sich Kurt Cobain, vollgepumpt mit Heroin, mit einem Kopfschuss das Leben. Wie bei Andy Kaufman und dem Mann auf dem Mond ranken sich bald Verschwörungstheorien um seinen Tod. Als der Elektriker Gary Smith Cobains leblosen Körper findet, liegt im CD-Player neben ihm "Automatic For The People".
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
18 Kommentare
Wurde auch Zeit! Erst letzte Woche wieder gehört.
Mit keinem anderen Album verbinde ich mehr Erinnerungen - egal ob positive oder neagtive - als mit "Automatic for the People"! Für mich der Inbegriff des perfekten Albums, wie es nur wenige von Ihnen gibt!
Songwriting at it's best!
Rotiert oft. Mein vater hat die zu lebzeiten gepumpt. Da ist ne connection.
Weil mir die Rezi gerade im Header angezeigt wurde:
Ein wahrer Meilenstein. Selten wurde Weltschmerz schöner vertont.
Topscheibe der 90er. Drive und Nightswimming sind für die Ewigkeit