laut.de-Kritik

Definitiv. Unumstößlich. Tragisch.

Review von

Punkrock ohne die Ramones ist in etwa so unvorstellbar wie Helmut Schmidt ohne Zigarette. Während der deutsche Bundeskanzler a.D. Ende der 70er Jahre dem Terrorismus der RAF die Stirn zeigte, veränderten vier Klebstoffschnüffler aus New York die Musikgeschichte so nachhaltig, dass es Fachleuten wie Fans bis heute ein Rätsel ist, wieso der wahrlich verdiente Geldregen nie über Joey, Tommy, Johnny und Deedee hinweg prasselte. Weit über Schmidts Amtszeit hinaus spielten sich die Ramones in wechselnder Besetzung zwischen 1974 und 1996 ganz nach oben in den Rock-Olymp, Meriten indes gab es all die Jahre "nur" in Form von kollegialer Anerkennung, ausverkauften Konzertsälen und späten Hall Of Fame-Ehren (2002).

Von Paul McCartney ist das sinngemäße Zitat überliefert: "Ich bin jetzt 57, aber zöge man die Zeit ab, die ich in meinem Leben an Flughäfen verbracht habe, wäre ich erst 32." Auf die Ramones gemünzt hieße das in etwa: Die Band existierte 22 Jahre, aber zöge man die Zeit ab, die die Band auf Tournee verbracht hat, wäre ihre Karriere nur etwa drei Jahre lang gewesen, keine Legislaturperiode also. Warum mit "End Of The Century - The Story Of The Ramones" nun tatsächlich das definitive Ton- und Bilddokument über diese in allen Facetten unglaubliche Karriere in den Handel gelangt, ist schnell erklärt. Zweifellos hatten schon die DVDs "We're Outta Here" und "Raw" ihre guten Momente, im Endeffekt aber eben vor allem aufgrund der bloßen Aneinanderreihung logischerweise skurriler TV-Auftritte und Interview-Sequenzen der Ramones und ihrer Fans.

Das nun vorliegende Werk liefert auf knapp zweieinhalb Stunden die Essenz: Interviews mit sämtlichen Bandmitgliedern (auch mit Richie in Anzug und Krawatte!) sowie Familienangehörigen zeichnen das Phänomen Ramones chronologisch und detailreich nach, und legen die fragile und doch unkaputtbare Chemie des Quartetts derart bloß, dass selbst dem unbefangenen Zuschauer am Ende ein bitterer Nachgeschmack bleibt, gefangen zwischen Mitgefühl und Melancholie.

An vielen Stellen will man am liebsten ins Geschehen eingreifen, möchte man beispielsweise dem sturen Gitarristen Johnny einen Tritt in den Arsch geben, dass er endlich mit Sänger Joey über das heikle Thema "Linda" spricht, die Frau, die Johnny seinem Sänger Mitte der 80er Jahre ausspannte, woraufhin der Gehörnte den Song "The KKK Took My Baby Away" komponierte und seinem Kumpel still und heimlich auf ewig gram war. Die Karriere, man ahnt es, ging trotzdem weiter. Wen stören schon Frauengeschichten, wenn das ganze Leben nur aus vier Zahlen besteht?

Unfasslich und doch konsequent erscheint da auch die Tatsache, dass Johnny Ramone Joey 2001 nicht am Krankenbett aufsuchte, als bei dem Sänger Krebs diagnostiziert wird. Lapidare Begründung: Er wolle kurz vor dem Ende auch niemandem mehr begegnen, den er "nicht leiden" könne. Solcherlei Anekdoten, zum Glück amüsantere, gibt es auf "End Of The Century" zuhauf.

Besonders schön ist der Beginn gelungen, wenn die Kamera Bandgründer Tommy, der heute einen langen grauen Pferdeschwanz trägt, an den Ort in Forest Hills/Queens begleitet, an dem die Ramones sich einst trafen, wo Deedee auf den Strich ging, wo überhaupt alles begann. Joeys Mutter und der Bruder verraten dabei viel Wissenswertes über das Gefühlsleben des Mannes, den jeder nur als wilden Rocker im schwarzen Lederoutfit in Erinnerung hat, obwohl Joey privat eher schüchtern war. Erst nach Tommys Ausstieg 1978 wird er allmählich selbstsicherer, da plötzlich der Band-Aufpasser weg ist, der sich sonst immer um alles kümmerte.

Zu den interessantesten Geschichten gehört sicherlich die Phase während der Arbeiten am "End Of The Century"-Album mit Produzentenguru Phil Spector 1979. Nicht nur der damals beteiligte Studio-Ingenieur erlitt während der Arbeiten einen Herzinfarkt, auch die Nerven der Bandmitglieder lagen blank. Klar ist, dass die Anwälte der "Wall Of Sound"-Legende die DVD im laufenden Mordprozess nicht als Unschuldsbeweis anbringen können: Spector wird als hoffnungsloser Freak beschrieben, der Wein aus Thermoskannen säuft, als Waffennarr, der bizarre Horrorfilme sammelt. "Ein kleiner Mann mit Perrücke und vier Pistolen", erläutert Johnny, und korrigiert sich: "Er ist ein totales Arschloch und behandelt alle wie Dreck".

Eine Zeit lang machen die New Yorker seine Spielchen mit (lassen sich sogar in Spectors Haus mit Waffengewalt festhalten!), schließlich scheint der alte Lennon- und Harrison-Produzent nach vier unkommerziellen Alben sowas wie die allerletzte Hoffnung auf einen Ramones-Chartserfolg zu sein. Nachdem aber auch diese Kollaboration floppt, "begruben wir all unsere kommerziellen Ambitionen für immer" (Johnny).

Somit ist auch nachvollziehbar, dass die Band die an sich knifflige Situation meistert, als Deedee 1989 zum Hip Hop konvertiert. Mit Goldkette, weiten Hosen und Äußerungen wie "Dauertouren schadet meiner Gesundheit" beschwört Deedee selbstredend den Zorn seiner Kollegen herauf, schlussendlich geht die Reise aber mit dem inzwischen von Drogen und Antidepressiva gebeutelten Bassisten doch weiter. Die letzten Worte sollen deshalb auch Deedee gehören, fassen sie doch die gesamte Karriere seiner Band, ob in euphorischen oder grausam-bitteren Momenten, treffend zusammen: "It's not easy being in a rock'n'roll band."

Trackliste

  1. 1. Opening
  2. 2. We Were Real
  3. 3. Childhood
  4. 4. Summer Of 75
  5. 5. 1976 - London
  6. 6. 1977 - Pied Pipers
  7. 7. 1978 - Integrity
  8. 8. 1979 - Phil
  9. 9. Beginning Of The End
  10. 10. The 80s
  11. 11. Calling It Quits
  12. 12. Extras

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