4. Juli 2022

"Für mich ist Kunst unantastbar"

Interview geführt von

Bereits zur Jahrtausendwende prägte Rhymin Simon neben originellen Figuren wie Sido, Taktloss oder King Orgasmus One den Rap der Hauptstadt. Dann verschwand er fast völlig in der Welt der Chemie.

Sie kehren alle zurück. Nach einer Auszeit von knapp eineinhalb Jahrzehnten tauchte Rhymin Simon vor zwei Jahren wieder im Rap-Zirkus auf. Das Doppelalbum "Essi Duz It/Letzte Liebe" geriet überraschend persönlich, aber in seiner Wehmut auch schwergängig. Mit seinem aktuellen Werk findet der Berliner zurück in die verspielte Spur. Bereits der Titel "Jizz" klingt locker aus dem Handgelenk geschüttelt. Die dazugehörige Musik verknüpft selbstironischen Nonsens mit amüsanter Ignoranz und einer Prise Nostalgie für die alternde Hörerschaft, die sich noch an seine Zeit bei der Sekte erinnert.

Einige Tage bevor Simons sehnlichst erwartetes Berlin-Konzert kurzfristig an seiner Corona-Infektion scheitert, probt er noch mit Vokalmatador und Plaetter Pi für den gemeinsamen Auftritt. Zu fortgeschrittener Stunde nimmt er sich anschließend noch die Zeit für ein ausgedehntes Telefon-Interview. Im Gespräch blickt er auf die "unfassbar geile Zeit" neben Sido und B-Tight in der Sekte zurück, spricht über seine Genre-Kollegen Mach One, She-Raw und Kollegah sowie Kritik, Anstand und Selbstzensur. Zudem gibt er Einblicke in seinen Hauptjob als Chemiker in Pharmaunternehmen.

Ich habe Fotos von deiner Release-Party gesehen, die eine sehr familiäre Atmosphäre vermittelt haben. Wie hat es dir gefallen?

Die war geil. Es waren so zehn Leute da, von denen ich die meisten schon Jahre lang kenne. Wir haben im Probenraum ein bisschen was gespielt. Zwischendurch habe ich die Leute ans Mikrofon geholt, die am Album geholfen, Beats und Videos gemacht haben. Jeder hat einfach kurz erzählt, wie wir uns kennengelernt haben oder wie die Zusammenarbeit war. Dadurch war das alles sehr locker und angenehm für alle. Danach haben wir am Späti noch ein paar Bier getrunken. Es war superschön.

Gehen wir einige der Beteiligten durch. Mach One war für das Artwork verantwortlich. Der scheint ein echter Allrounder zu sein.

Ja, er kann echt alles. Der macht hammer Beats, die ich übertrieben feiere. Dann hat er mal gemischt, rappt unfassbar, ist ein Tagger, Graffiti-Sprüher und Tattoo-Boy – der kann echt alles. Der ist echt unfassbar. Ich kenne Mach auch schon lange. Als er mir das Cover gezeigt hat, bin ich einfach weggeflogen. Ich konnte es nicht fassen, wie geil es aussieht. Ich bin nach wie vor verliebt in das Cover.

Welche Rolle hat B-Tight in der Produktionsphase gespielt?

In der Produktionsphase hat er keine Rolle gespielt. Im Endeffekt mache ich alles fertig und dann spiele ich es Bobby und Wilma vor, die als Managerin seine Label-Arbeit macht. Die beiden halten sich komplett raus. Ich bitte nur Wilma, immer darauf zu achten, ob irgendwas dabei ist, was man nicht sagen darf, was zu weit geht. Bis jetzt hat sie alles abgenickt. Sie ist meine rechtliche und moralische Instanz.

Wie kam es dazu, dass du bei Wilma und B-Tight vertraglich untergekommen bist?

Als ich damals "Essi Duz It/Letzte Liebe" herausbringen wollte, habe ich mir überlegt, mit wem ich das machen könnte. Ich habe mit ein paar befreundeten und mir unbekannten Labelinhabern gesprochen - in diesen typischen Meetings. Am Ende des Tages war mir klar, dass ich es familiär halten will. Kohle und die Verkaufszahlen sind mir ja ziemlich unwichtig. Mir war wichtiger, dass die Stimmung passt. Ich habe überlegt, wer ist eigentlich der glücklichste Rapper in seinem Umfeld? Und das ist definitiv Bobby. Der lacht ja immer und hat gute Laune. Dann muss die Arbeit da einfach gut laufen. Deswegen habe ich mich damals mit Bobby und Wilma getroffen. Seitdem läuft das relativ entspannt, auch wenn ich mich noch an Social Media und so einen Quatsch gewöhnen muss.

Von außen betrachtet habe ich bei B-Tight immer den Eindruck, dass die Distanz zwischen der Aggro-Inszenierung und der realen Person bei ihm am größten ist.

Da müsstest du ihn vielleicht fragen. Aber er ist vom Wesen her auf jeden Fall so ein guter und glücklicher Mensch ist, dass er das heutzutage auch nicht mehr so machen könnte wie damals. Es steht ihm auf jeden Fall sehr gut, dass er seine positive Art in der Musik widerspiegeln lässt. Er ist natürlich auch älter geworden. Der war früher auch anders. Er hat dann auch Dinge erlebt, die man erst erlebt, wenn man älter wird.

Wie hast du She-Raw davon überzeugt, wieder unter ihrem alten Pseudonym aufzutreten?

Das war ziemlich einfach. Ich hatte den Beat gepickt und wusste sofort, in welche Richtung der Text gehen sollte. Die Stimmung hat es einfach vorgegeben. Ich wollte genau so ein Song machen, weil es Teil einer Stimmung ist, die ich in mir trage. Und ich hatte gleich das Gefühl, dass es kein Song ist, für den ich zwei oder drei Strophen machen wollen würde, weil ich mich wiederholen würde. Ich habe lange überlegt, wer Feature sein könnte, als mir auf einmal She-Raw in den Kopf kam. Warum zur Hölle war das nicht von Anfang an klar? Es passt einfach perfekt. Wir haben kurz über den Song geredet und sie meinte dann, sie gucke mal, was sie machen kann. Eine halbe Stunde später hatte ich die erste Version als Sprachnachricht auf meinem Handy. Sie hatte den 16er einfach fertig. Dann sind wir ins Studio zu Serk gefahren und haben beide aufgenommen. Sie hat sich dann noch hingesetzt, in fünf Minuten die Hook geschrieben und aufgenommen. Ich hab' mich mega gefreut, dass wir das zusammen gemacht haben. Ich finde das Ergebnis überkrass. Sie ist auf jeden Fall die krasseste Musikerin, die ich kenne. Niemand in dieser Rap-Welt kann ihr annähernd das Wasser reichen. Es ist so traurig, dass sie den Respekt und den Erfolg nicht bekommt, den sie verdient. Aber so ist es manchmal.

Du hast dich ja früher immer strikt gegen weibliche Rapper ausgesprochen. Wie hat sich deine Haltung geändert?

Ich finde es geil, eine Frau auf dem Album zu haben. Wahrscheinlich hätten die wenigsten erwartet, dass ich das machen würde. Für mich ist sie aber kein weiblicher Rapper. Sie ist die Königin, sie ist einfach die fucking Beste. Und auf dem nächsten Album habe ich auch wieder einen weiblichen Rapper drauf. Eine 'Rapperin' heißt es dann, oder?

So sagt man. [lachen] Du hast vorhin schon gesagt, dass Wilma ein Auge darauf hat, dass es textlich nicht ausufert. Was würdest du denn heute nicht mehr rappen, was früher bei dir vorgekommen ist?

Wenn wir alte Sachen live spielen, dann gibt es Stellen, bei denen wir uns selbst zensiert haben. Die lassen wir aus. Wir haben erst versucht, andere Worte zu verwenden. Da kommen wir aber jedes Mal raus. Seitdem lassen wir die Parts oder die drei, vier Worte weg, die gar nicht mehr gehen. Ich finde es nach wie vor ein bisschen witzig und weiß ja, wie es gemeint ist, aber ich verstehe natürlich auch, dass Leute das vielleicht falsch verstehen könnten. Deswegen lassen wir das ein bisschen weg.

In "Trashtalk" sagst du: 'Ich F-Wort deine M-Wort, du H-Wort-Sohn.' Machst du dich über politische Korrektheit lustig?

Ja, ich finde es wirklich ein bisschen übertrieben, Worte nicht mehr aussprechen zu können. Worte sind Worte. Wenn sich irgendwer von einem Wort unangenehm berührt fühlt, dann habe ich absolut kein Problem damit, ein anderes Wort zu nehmen. Ich will keinen anpissen, nur weil ich unbedingt ein Wort aussprechen will. Damit habe ich kein Problem, so viel Anstand zu haben, das eben wegzulassen. Aber ein Wort nicht mehr sagen zu dürfen, finde ich auch ein bisschen merkwürdig.

Gut, es gibt ja kein Verbot, aber man bekommt dann Kritik ab.

Kritik ist ja kein Problem. Dazu bin ich ja da. Da könnt ihr ja alle draufhauen. Klar, wenn ich jemanden ärgern will, geht es halt los. Aber wenn ich Leute nicht kenne und sie sich davon angegriffen fühlen, dann verbietet es mir mein Anstand einfach, dieses Wort zu nutzen. Damit habe ich dann wie gesagt gar kein Problem.

"Für Rap gibt es tausend Sprachen. Jeder kann sich überlegen, ob er eine tiefe Message verbreiten, politisch werden, über seine Ex oder sein Gangster-Life rappen will."

Wie fandest du meine Kritik? War es erträglicher als letztes Mal?

Um ehrlich zu sein, weiß ich nie, wie du das meinst. Ich war heute mit Plaetter Pi im Probenraum, der meinte, er hätte die "Jizz"-Kritik von dir gelesen: 'Ich weiß gar nicht, ob ihm das jetzt gefallen hat oder nicht.' Dann habe ich ihn angeguckt und gesagt: 'Weiß ich auch nicht.' [lachen] Du kannst es empfinden, wie du willst. Es hat für mich noch nie so richtig eine Rolle gespielt, was eine einzelne Person darüber schreibt. Solange da draußen aber noch Leute sind, die gerne zu den Konzerten kommen und mit mir feiern, ist doch alles gut. Es muss ja auch nicht jedem gefallen. Ich habe mich ohnehin immer relativ wohl gefühlt, wenn es ungefähr der Hälfte absolut gar nicht gefällt und die andere Hälfte sagt: 'Mega geil, da will ich auf jeden Fall mitfeiern!' Wenn alle das geil fänden, würde ich irgendwas falsch machen.

Zumeist geht es erstmal darum, die Weltsicht herauszuarbeiten, teilweise auch die Ideologie. Ich versuche, klar zu machen, was auf Alben eigentlich passiert.

Ja, ich verstehe ein bisschen deinen Ansatz, aber am Ende des Tages ist es Kunst. Ich will von meinen Sachen nicht als Kunst reden, das ist eher Handwerk. Als jemand, der Kritiken schreibt, kannst du das analysieren und auseinandernehmen, aber im Endeffekt ist Kunst für mich unantastbar. Timi Hendrix von Trailerpark hat mal was ganz Witziges in einem Song gesagt. Er könne nicht in einer Gesellschaft leben, in der es Schulnoten für Kunstunterricht gibt. Das trifft es ganz gut.

Das Äquivalent zur Notenvergabe sind die Punkte bei laut.de. Für "Jizz" gab es drei von fünf Punkten.

Drei von fünf? Das ist ja ziemlich mittelmäßig – perfekt. [lachen] Was hast du dem letzten Album gegeben? Einen von fünf?

Zwei von fünf.

Alter, nächstes Mal dann vier von fünf. Ich arbeite daran. Kann ich dir vorher mal eine Hörprobe schicken, sodass du es mal hörst und sagst, in welche Richtung das geht? Wie so ein Referat: 'Wenn du das noch verbesserst, dann könnte es eine drei sein.' Können wir das so machen? [lachen]

Teilst du denn meinen Eindruck, dass du mit größerer Leichtigkeit an "Jizz" herangegangen bist?

Ja, auf jeden Fall, die Alben sind komplett anders entstanden. "Essi Duz It/Letzte Liebe" habe ich über Jahre geschrieben. Es war von der Herangehensweise viel zu verkopft. Nichtsdestotrotz war das Album extrem wichtig für mich, um Dinge zu sagen, die mich beschäftigt haben, aber auch um nach 15 Jahren wieder ein bisschen zurückfinden, auch wenn ich das Rappen nicht per se verlernt habe. In der Zeit, in der "Essi Duz It/Letzte Liebe" gemastert wurde, war eine Lücke von zwei bis vier Monaten, in denen ich keine Aufgaben mehr hatte. Und da habe ich dann einfach weitergeschrieben, weil ich noch so im Fluss und in dieser Euphorie war, nach so vielen Jahren ein Album fertig zu haben. Da habe ich angefangen, "Jizz" auf Ami-Beats zu schreiben. Serk hat mir die Wooshy-Leute empfohlen, die mir dann Pakete von sechs bis zehn Beats geschickt haben. Und in jedem Paket waren mindestens zwei Beats, die von der Rhythmik und Atmosphäre perfekt zu Songs gepasst haben, die ich geschrieben hatte. Und dann waren da aber noch zusätzlich Beats drauf, die mir so gut gefallen haben, dass ich dazu was geschrieben habe. Songs wie "Schwerkraft" habe ich innerhalb von einer Viertelstunde fertig geschrieben. Die Geilheit dieser Beats hat mir einfach so einen Push gegeben. Dadurch ist das Album viel schneller, lockerer und aus einer euphorischen Stimmung entstanden.

Steht dir auch besser.

Ja, natürlich, wer will schon so einen depressiven Idioten sehen, der über seine Ex rappt? Ich höre mir das ja auch von keinem anderen Rapper an. Das würde ich sofort ausmachen. Aber für mich war es trotzdem wichtig. Es gibt auch Leute, die das fühlen. Es gibt komische Leute da draußen.

Ist "Trashtalk" für dich die Quintessenz von Rap? Oder was macht Rap für dich im Kern aus?

Ich finde Songs wie "Trashtalk" schon geil. Einfach wie Karate Andi oder auch Taktloss, der ja der Gott in diesen Sachen war, irgendeinen Blödsinn mit geilen Vergleichen und Punchlines, der sich geil anhört. Für mich ist es das angenehmste und natürlichste im Rap. Aber ich will nicht abstreiten, dass es für Rap tausend Sprachen gibt. Jeder kann sich überlegen, ob er eine tiefe Message verbreiten, politisch werden, über seine Ex oder sein Gangster-Life rappen will. Ich höre mir auch viele Dinge davon an, aber mir persönlich gefallen solche Songs, in denen es im Endeffekt nur um Trashtalk geht. Bei manchen Songs mit Punchlines werde ich sauer, weil sie so gut sind. Warum ist mir die nicht eingefallen? Da bin ich mit dem Herzen dabei, diese kleinen Zweizeiler zu hören, mich daran aufzugeilen und eine Stunde lang totzulachen.

Ich schätze mal, dass dir das bei Rappern wie Kollegah nicht so gut gefallen wird, die ja auch einem Leistungsprinzip folgen.

Ich will Kollegah überhaupt nicht haten. Wie könnte ich das jemals machen? Aber das sind nicht die Lines, die mich persönlich ansprechen. Zwei von fünf Sternen gebe ich Kollegah. [lachen] Ich will das gar nicht bewerten. Das ist seine Art von Lines, die er geil findet und die unendlich viele Leute feiern. Mich persönlich sprechen die meisten davon nicht so krass an. Es ist einfach nicht die Art von Sätzen, die mich ins Staunen versetzen. Aber es ist Geschmacksache. Ich bin mir sicher, wenn du Kollegah meine Sachen vorspielst, gefällt ihm das sehr wahrscheinlich auch nicht sonderlich gut.

Ich glaube, dass er sich ohnehin gerne mit Leuten umgibt, die ein bisschen simpler gestrickt sind.

Dann wäre ich ja eigentlich genau sein Typ. [lachen] Kennst du dieses Punchline-Quiz? Da war Kollegah und er hat fucking zehn von zehn gewusst. Und er hat die meisten von denen gewusst, bevor sie ihm die Auswahl gezeigt haben, welche Rapper das gesagt haben könnten. Da habe ich nicht schlecht gestaunt. Also entweder war das völlige Verarsche und die haben das vorher abgesprochen oder der Typ ist wirklich interessiert an Deutschrap. Das war unfassbar. Er rappt ja schon überragend, das will ich gar nicht bestreiten. Aber obwohl er immer so ein abgehobenes Image verbreitet, ist er doch interessiert. Das fand ich auf jeden Fall ziemlich witzig.

Du hast die Szene-Kritik "Was Gibt Es Neues?" auf dem Album. Hast du wirklich den Eindruck, dass ein gewisser Stillstand herrscht im Rap?

Ich glaube ja, aber ich glaube auch, dass es mir scheißegal ist. Wenn ich mit Wilma und Bobby das Album durchhöre, dann gibt es immer so zwei Songs, bei denen ich sage, dass ich sie gerne rausschmeißen würde, weil sie mir nicht gefallen. Zu "Was Gibt Es Neues?" wollten Bobby und Wilma ein Video drehen. Das sei eine Single. Ich habe gesagt, es sei der Song, den ich runterschmeißen will. Es hört sich verbittert an, was ich absolut nicht bin. Ich finde schon ein bisschen, dass vieles gleich klingt, aber mich interessiert es am Ende des Tages auch nicht. Wenn die alle gleich klingen wollen, dann sollen sie das machen. Ist mir einfach latte. Deswegen wollte ich den Song eigentlich gar nicht auf das Album packen.

Kulturpessimismus ist immer ein schlechter Ratgeber.

Ja, es ist auch einfach unangebracht. Warum äußert sich jemand über Dinge, von denen er ein Teil ist? Warum macht er es nicht einfach anders? Ich rappe ja selbst. Dann kann ich es doch anders machen. Wenn Leute das hören wollen, ist es doch cool. Sollen sie doch alle das Gleiche machen. Am Ende des Tages interessiert mich das ernsthaft nicht.

"Genauso wenig wie ein Rapper chemische Formeln verstehen würde, würde ein Chemiker verstehen, was Rap ist. Das schaffen die jeweiligen Gehirne gar nicht."

Du hast den schönen nostalgischen Song "Glaubst Du?" auf dem Album. Darin heißt es: 'Ich hab' ein Lächeln im Gesicht, wenn ich mich erinner'. Mit der ganzen Sekte-Horde in Bobbys kleinem Zimmer.' Hast du dich nicht zwischenzeitlich mal stark abgegrenzt von dieser Anfangszeit? Wann bist du in diesen nostalgischen Modus gewechselt?

Nein, ich wusste, dass ich an einem bestimmten Punkt nicht mehr mitgehen kann und möchte. Das habe ich mit den Boys beredet. Ich habe aber immer verstanden, dass sie das machen wollen und habe es akzeptiert. Und sie haben verstanden, dass ich das nicht möchte. Dann sind sie ihren Weg gegangen und ich meinen. Aber die Zeit an sich, die wir damals hatten, haben weder Bobby und Sido noch Vokalmatador und ich in Frage gestellt. Die ersten Konzerte mit der Sekte, die ersten Tapes mit ihnen aufzunehmen – es war eine unfassbar geile Zeit. Das realisierst du in dem Moment nicht. Du siehst erst später, was das für eine wilde, schnelle und bekiffte oder betrunkene Zeit mit Sido, B-Tight, Vokalmatador und allen anderen war, die zur Sekte gehört haben. Nach wie vor sind das meine Brüder. Ich würde nichts Schlechtes über sie sagen. Wir haben uns zweimal auf Konzerten gesehen und es war von der Herzlichkeit und Bruderliebe einfach wie damals. Ich habe Bobby kurz vor Corona auf einem Festival im Saarland begleitet. Da saßen wir spätabends kaputt herum und haben über diese Trennungsphase gesprochen. Das war echt emotional, muss ich sagen. [lacht verschämt] Es war eine perfekte Zeit.

Ich komme darauf, weil du dich im Juice-Interview 2005 ziemlich hart ausgedrückt hast: 'Ich habe damals einen harten Cut gemacht. Seitdem ist es vorbei.' Das klang fast nach verbrannter Erde.

Nein, überhaupt nicht, ich würde mich wundern, wenn ich das gesagt hätte. Der Cut war businessmäßig. Da habe ich mich nicht gesehen. Aber dass die Boys die Boys bleiben, habe ich niemals in Frage gestellt.

Hast du denn versucht, Sido auf "Glaubst Du?" zu bekommen?

[Pause] Ja. [lachen] [Pause] Er ist nicht drauf, wie man hören kann. Es hat leider nicht geklappt. Ich weiß nicht genau, warum, aber er ist nicht drauf. Eigentlich hatten wir alle vier Bock darauf, so viel kann man vielleicht sagen. Am Ende des Tages hat es nicht funktioniert, dass wir alle vier auf einem Song sind. Aber vielleicht schaffen wir es irgendwann mal wieder.

Du klingst im Rap meist recht antriebslos. Ist Musik für dich das Gegenmodell zu deiner Arbeit als Chemiker in Pharmaunternehmen?

Ja, ich hoffe, dass ich da nicht so emotionslos wirke. Da muss ich mal meinen Chef fragen. [lacht] Ich weiß nicht, ob es ein Gegenpol ist. In Phasen, in denen es hektisch wird, weil ich Abgabetermine auf der Arbeit und von Alben habe, merke ich schon, dass diese zwei Leben zeitlich eigentlich ein bisschen schwer unter einen Hut zu bringen sind. Ansonsten läuft es nebenbei bei mir. Ich habe einfach in meinem Körper Energie für zwei Leben. Ist wirklich so. Ich könnte aber weder auf das eine noch auf das andere verzichten. Würde ich gerne dieses geile Life leben, von dem alle Rapper immer träumen? Ich glaube, das wäre nichts für mich. Ich brauche zu Rap diesen nerdigen Pharma-Chemie-Ausgleich. Und dazu brauche ich aber auch diesen Rap-Ausgleich. Für mich ist beides wichtig, um mich wohl zu fühlen.

Gibt es in der naturwissenschaftlichen Welt vertraute Personen, die deine Musik kennen? Oder gehst du damit nicht offen um?

Nein, überhaupt nicht, ich will, dass diese beiden Leben überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Ich erzähle auch keinem Rapper, was ich chemisch mache. Darf ich auch gar nicht, da ich ja eine Verschwiegenheitsverpflichtung habe. Genauso behandele ich das andersherum. Ich würde niemals irgendeinem Mitarbeiter oder Chemiker erzählen, dass ich Rap mache. Wozu auch? Würden die auch gar nicht verstehen. Genauso wenig wie ein Rapper chemische Formeln verstehen würde, wenn ich ihm das erkläre, würde ein Chemiker verstehen, was Rap ist. Ich glaube, diese beiden Dinge sind so gegensätzlich, das schaffen die jeweiligen Gehirne gar nicht. Und nur ich kann ab und zu hin- und herspringen.

Was kannst du über deine Arbeit verraten?

Wir machen Forschungsaufgaben für Pharmaunternehmen. Und diese Pharmaunternehmen wollen weder, dass jemand weiß, dass sie mit uns arbeiten, noch an welchen Projekten oder Medikamenten wir arbeiten. Deswegen dürfen wir darüber überhaupt nichts erzählen.

Stand es früh für dich fest, dass Chemie dein Lieblingsfach ist?

Nein, ich habe es erst nicht Leistungskurs gewählt. Erst ein halbes Jahr später bin ich darauf gekommen und durfte dann von Politischer Weltkunde in den Chemie-Kurs wechseln. Da war es dann eigentlich klar. Ich wurde auch ein bisschen von meiner Chemielehrerin gefördert. Sie hat mich beispielsweise im Unterricht TNT herstellen lassen und wir haben das dann hochgejagt. Es ist eigentlich absurd, dass man das in der Schule machen darf. Sie hat es einfach durchgezogen. Nach dem Abi wusste ich, dass ich für die Arbeitswelt noch nicht so richtig bereit bin. Als dann klar war, dass ich irgendwas studieren würde, war ich bei der Studienberatung. Sie haben gesagt, als Chemiker gebe es beste Jobchancen. Da dachte ich, Hallelujah, dann machst du halt Chemie.

Wie hast du den Umgang der Öffentlichkeit mit den Naturwissenschaften in den letzten zweieinhalb Jahren Pandemie wahrgenommen?

Für mich als Chemiker ist es natürlich schön, dass der Ruf nach den Naturwissenschaften in der Politik deutlich größer wird. Dass die Expertise auf einmal höher angesiedelt ist als Emotionen. Lass uns mal davon weggehen, dass ein Politiker das erklärt, sondern lass den Chemiker oder Virologen reden. Für mich ist es eine komplett nachvollziehbare Basis, auf der man Politik und Gesellschaft vorantreiben sollte. Vielleicht sehe ich das auch zu verbissen, weil ich ja Naturwissenschaftler bin. Aber für mich ist es einfach der richtige Ansatzpunkt. Wobei sich das auch wieder umkehren wird. Wenn die Pandemie vorbei ist oder wir denken, dass sie vorbei ist, dann wird das wieder jeder vergessen haben. Genauso wie sich dann wieder jeder normal die Hände waschen wird und nicht mehr in der Länge, Rhythmik und Methode, mit der man sich jetzt die Finger wäscht. Und genauso wird der Ruf nach mehr wissenschaftlicher Expertise in Politik und Gesellschaft nachlassen.

Wie hast du es empfunden, dass bestimmte Medien gezielt widersprechende Experten aufgebaut haben?

Natürlich gibt es Experten mit unterschiedlichen Meinungen. Und natürlich ist die Diskussion sehr hitzig innerhalb der wissenschaftlichen Community, wie man so schön sagt. Aber wir es ja gewohnt, dass man Ansatzpunkte und Theorien diskutiert und dann versucht, chemische und biologische Experimente zu finden, um die Antworten zu bekommen. Ich lebe damit täglich. In der Politik wird dagegen sachte herumgelabert, wenn ich das mal so salopp sagen darf. Die sind die Art der Diskussionsführung gar nicht gewohnt.

Wie erlebst du es in der Chemie?

Als Chemiker bin ich in der glücklichen Lage, dass wir ein chemisches Experiment planen, in maximal einer Woche durchführen und dann die Antwort haben. Wenn wir uns in Meetings streiten, dann planen wir einfach ein Experiment, einigen uns auf das Setting, führen es durch, analysieren es und dann hat einer Recht und einer Unrecht. Es ist das Traumhafte an der Chemie, dass du diese Frage durch ein chemisches Experiment stellen kannst und einfach die Antwort hast. Und wer Unrecht hat, muss die Schnauze halten, und wer Recht hat, was in der Regel ich bin, kann weitermachen. [lachen]

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