laut.de-Kritik

Folk, Funk, Hip Hop und Dub vereint in einem pathetischen Wirbel.

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Das soll jetzt keine ätzende, vor Nostalgie triefende Einstiegstirade werden, aber die Zeiten im ewig um sich herum kreisenden Popgeschäft haben sich massiv geändert. Vor einigen Jahren gab es feststehende V.Ö.-Termine, die wir uns entspannt in unsere Kalender eintrugen. Als Musikfan hattest du ein feststehendes, wenn auch einseitiges Date mit deinem Idol. Bereits im vergangenen Jahr hatte Überstar Drake diese romantische Idee der Veröffentlichungspolitik mit Füßen getreten, seine Scheibe "If You're Reading This It's Too Late" ankündigungsfrei auf Itunes geblasen und trotzdem problemlos Platin erreicht. Und wahrscheinlich ist das gut so!

Auch Rihannas neue und lang erwartete Platte ist ein strange schillerndes Beispiel dafür, welche Diskursblasen und finale Faktoren einen Release im Jahr 2016 beeinflussen können. Denn "Anti" ist die erste richtige Rihanna-Platte seit circa vier Jahren, der im vergangenen Jahr erschienene Soundtrack zum Animationsfilm "Home" zählt ja irgendwie nur so halb. Nachdem der Superstar von Def Jam in Richtung Roc Nation ihres Ziehvaters Jay-Z gewechselt war, tropften stetig Wasserstands-Meldungen an die Oberfläche: Rihanna ist auf der Suche nach einem ganz neuen Sound, Rihanna verschiebt den Release aufgrund von Adeles "25"-Mördererfolg, Rihanna hat einen dicken 25-Millionen-Promotions-Vertrag mit Samsung. What? Am Ende wusste keiner mehr wohin mit dieser Scheibe. Und plötzlich war sie da. Exklusiv über Tidal. Früher als gedacht. Und jetzt auch noch umsonst (zumindest für begrenzte Zeit)! Ist "Anti" also nur ein Marketinggag für Jay-Z dümpelnde Streaming-Plattform? Spoiler vorab: Nein!

"Consideration" eröffnet die Platte mit einem langsamen, dunklen Beat. Darüber installiert sich dann umgehend die vitale, fast Reggae-mäßig flowende RiRi, die dann alsbald im Gollum-Style gegen sich selbst ansingt und sich regelrecht in waberndes Selbstgespräch vertieft. In dieses schält sich dann kaum merklich noch SZA ein – die Hip Hop/Soul-Neuentdeckung ist einer von nur zwei Feature-Gästen und bringt sich hier wenig subtil als designierte Rihanna-Nachfolgerin in Stellung. Der atmosphärische Auftakt verwirrt aufgrund seines verschleppten Tempos und seiner Struktur, die so gar nicht den gängigen Hit-Richtlinien folgt und sich jenseits aller Hooks und Bridges total linear und doch kaum greifbar entschlängelt.

Das daran anknüpfende, gerade einmal 1:11 lange Stück "James Joint" ist ähnlich mysteriös, eine bunt rauchende Nebelkerze von Song, eine 70er Jahre Hypnose, die sich wunderbar als Soundtrack für eine Traumsequenz in "The Big Lebowski" machen würde. Dazu säuselt der verrucht vibrierende Superstar: "I'd rather be smoking weed/ Whenever we breathe/ Everytime you kiss me/ Don't say that you miss me/ Just come get me". Oha, der verquere Auftakt macht definitiv Lust auf mehr.

Da macht sich eine erste Ernüchterung breit: Das nachfolgende Double Feature klingt wenig inspiriert und verdammt konventionell. Rihanna findet auf der aalglatten, Kaugummiblasen schlagenden Powerpop-Ballade "Kiss It Better" zurück zu ihrer klassischen, leicht mechanischen Stimmfärbung, die über die vergangenen Jahre sicherlich auch zu einer Markenzeichen reifte, die sich zuletzt aber durchaus tot gelaufen hatte. "Kiss It Better" ist jedenfalls eine kaum erträgliche Popnummer, deren unsäglich süßer Refrain von einem Würgereiz hervorrufenden Bon Jovi-Riff begleitet wird. Der Song ist das Äquivalent zu einem Instagram-Selfie, das wieder und wieder mit verschiedenen Filtern übermalt wird, bis von der eigentlichen Komposition nicht viel mehr als ein vernebelter Schatten übrig ist. Und auch die Vorab-Single "Work" feat. Drake enttäuscht vollends in Sachen Songwriting und Größe. Es fehlt an doppeltem Boden, die Komposition ist weder Fisch noch Fleisch, weder Experiment noch Hit, sondern schnell abgenutzter Pop für die Generation Youtube. Zwischenfazit? Es steht Unentschieden!

Doch Rihanna legt konzentriert nach: Der Mittelteil der Platte beinhaltet mit dem stetig aufs Neue gebrochenen "Needed Me" und dem unfassbaren Tame Impala-Cover "Same Old Mistakes" (von "Currents") die beiden wohl herausragenden, weil sich stetig der Verordnung entziehenden Stücke der Platte. Die Verzerrung, der Sprung in der Platte wird hier zum Programm und doch in kristallklaren Sound wiedergegeben. Dazu raue, reduzierte Lyric-Cut-Ups: "You been rollin' around, shit I'm rollin up / Light and roll it up/ Break it down like a pound, shit was never us/ Shit was never us". Hm. Irgendwie lässt einen dieses Auf und Ab, diese Achterbahn der Sound-Gefühle ratlos zurück. Erst der finale Soundblock stimmt versöhnlich.

"Love On The Brain" ist eine harmlose, aber eingängige Soulnummer, "Higher" eine von Streichern begleitete, böse mitreißende Ballade, auf der Rihanna die gesamte und hier beeindruckende Bandbreite ihrer Stimme offensiv zur Schau stellt und geradezu gegen Adele anzusingen scheint. "Never Ending" indes ist die Rihanna-Version einer Lagerfeuer-Folk-Hymne. Der hier ausgestellte Sammeltrieb und leidenschaftliche Pioniergeist erinnert stellenweise an Kendrick Lamars "Good Kid M.a.a.d. City" oder auch an das Wunderkind Raury.

Unterm Strich ist "Anti" keine gewöhnliche Popscheibe, sondern ein vielschichtiges, wenn auch nicht tiefgründiges Konglomerat aus einem Haufen unterschiedlicher Stile und Einflüsse, eine kunterbunte, perfekt produzierte Gegenwelt, in die du als Hörer abtauchst und die dich irritiert und atemlos wieder ausspuckt. Jazz, Folk, Funk, Hip Hop, Soul, Dub – alles vereint im pathetischen Wirbel der rotierenden Scheibe oder zumindest darüber gestrichen mit dem Filtermesser. Pop eben, in Reinform oder mindestens dessen Nachahmung.

Tatsächlich überrascht Rihanna über die Albumlaufzeit gleich mehrmals ihre Hörer, und immer dann, wenn du kurz denkst, du hättest diesen Sound jetzt kapiert, wird das Steuer abrupt herumgerissen. Dieser Mut zum Abbiegen gebiert immer wieder spannende Songmomente (vor allen zu Beginn und im Mittelteil des Albums), ab und an setzt das Popphänomen den Albumkarren aber auch direkt vor das nächste abgedroschene Stoppschild. Einen echten Überhit oder Clubsong gibt es im Übrigen nicht. "Anti" scheint als Gesamtwerk, als größtenteils geschlossener Kreis angelegt. Und das ist durchaus ein Statement. Das Warten hat sich gelohnt – glaube ich ...

Trackliste

  1. 1. Consideration (feat. SZA)
  2. 2. James Joint
  3. 3. Kiss It Better
  4. 4. Work (feat. Drake)
  5. 5. Desperado
  6. 6. Woo
  7. 7. Needed Me
  8. 8. Yeah, I Said It
  9. 9. Same Old Mistakes
  10. 10. Never Ending
  11. 11. Love On The Brain
  12. 12. Higher
  13. 13. Close To You

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12 Kommentare mit 9 Antworten

  • Vor 8 Jahren

    Die Erwartungen waren sicher ganz andere, aber ich muss sagen, dass ich "Anti" inzwischen doch schätze. Ein Rihanna-Album mal der ganz anderen Sorte. Ich finde "Higher" übrigens mega.

  • Vor 8 Jahren

    Nicht so gut wie Rated R, aber kann man hören. Schade dass Bitch better have my money und FourFiveSeeconds nicht drauf sind. 3 Punkte

  • Vor 8 Jahren

    das dilemma, wenn künstler, die vorher pop ohne anspruch gemacht haben, plötzlich ernstzunehmend werden. den fans gefällt die edgyness nicht und die leute, denen es gefallen würde, hören es sich nicht an oder verreissen es, ohne es gehört zu haben.
    ri hat mit beyoncé, solange und alicia dieses jahr ein für ihre verhältnisse unkonventionelles album heraus gebracht und sich endlich vom plastik pop emanzipiert, schon dafür ist ihr zu gratulieren.
    wenn man sich das album erst nach dem medialen hype mit dem wissen um seine andersartigkeit - verglichen mit den vorgängern - und demzufolge ohne diese eingängigkeitserwartungen anhört, gibt es schon einiges zu entdecken. "love on the brain" ist vermutlich ihr bester song überhaupt.
    "needed me", "desperado" und "consideration" sind fett! auch ohne den überhit wirkt es so, dass sie endlich die musik macht, die ihr und ihrem charakter entspricht. auch wenn das album an manchen stellen etwas schwerer zu greifen und fast unmelodisch ist, feier ich es. ich hoffe, sie macht weiter so, die "neue" edgyness tut dem popbiz ziemlich gut.