7. Juni 2021

"Informationen sind mächtiger und gefährlicher als jemals zuvor"

Interview geführt von

Mit "Nowhere Generation" veröffentlichten Rise Against ihr neuntes Studiolbum. Dabei setzt die Band aus Chicago wieder auf energiegeladenen, eingängigen und politischen Punkrock.

Das Thema diesmal: Die titelgebende "Nowhere Generation", eine Generation von jungen Leuten, für die sich das Versprechen des American Dream zunehmend als nicht umsetzbar entpuppt. Ein schwerer Themenkomplex, den Rise Against wie gewohnt in hymnische, stets auf den Punkt kommende Punksongs packen. Die Inspiration dafür holte sich Sänger und Songschreiber Tim McIlrath im Gespräch mit jungen Fans, wie er uns im Interview erzählt.

Tim, bei Rise Against geht es ja immer wieder um den amerikanischen Traum. Auf dem letzten Album hast du etwa gesungen, dass die USA früher einmal "ein Leuchtturm für die verzweifeltsten aller Schiffe" waren. Wie siehst du den Status Quo dieses Traums heute?

Das ist eine gute Frage. Ich denke, dass Amerika in der Zeit nach dem 11. September eine Menge guten Willen verspielt hat. Die USA genossen ein gewisses Wohlwollen und ein hohes Ansehen in der Welt. Seit 9-11 ging das irgendwie bergab. Unsere Glaubwürdigkeit erodierte. Menschen auf der ganzen Welt begannen in Frage zu stellen, ob wir immer noch dieser Leuchtturm auf dem Hügel sind, als den wir es selbst charakterisiert haben. Amerika hatte eine Identitätskrise. Es gab Leute in diesem Land, die entschieden, dass wir exklusiver sein sollten. Wir sollten uns mehr von der Welt abwenden und nur auf uns selbst schauen und uns nur um uns selbst kümmern. Das schuf dann genau diese Identitätskrise, denn die Hälfte des Landes glaubt, dass wir Teil einer globalen Gemeinschaft sein sollten — und die andere Hälfte des Landes glaubt, dass wir das eben nicht sein sollten. Es scheint, als hätten viele Länder dieselben Fragen und dieselbe Krise. All das beeinflusst, wie der amerikanische Traum aussieht. Denn wie kann es einen amerikanischen Traum geben in einem Land, das eine Identitätskrise hat und sich nicht einmal entscheiden kann, wie die Zukunft aussehen soll? Das erzeugt eine Menge Ängste und Befürchtungen in den Menschen.

Eine derartige Identitätskrise fand und findet ja nicht nur in den USA, sondern auch an anderen Orten statt. Die Auswüchse davon – egal wie die Protagonisten heißen — waren aber ja mehr Symptom als Ursache, meinst du nicht?

Ich denke, da hast du recht. Wenn der Ort, an dem wir leben, politisch, wirtschaftlich oder sozial instabil wird, ist das der Punkt, an dem "Anführer" unsere Ängste und Befürchtungen ausnutzen können. Sie können unsere Ängste erkennen und sie gegen uns verwenden, uns davon überzeugen, dass es da draußen einen Boogeyman gibt, den wir für unsere Probleme verantwortlich machen können. Da hat Donald Trump einen großartigen Job darin gemacht, er hat alle davon überzeugt, dass dieser Boogeyman der Rest der Welt ist, dass wir anderen Ländern die Schuld geben sollten. Wir sollten andere Leute beschuldigen, wir sollten Mexiko für unsere Probleme beschuldigen, wir sollten Immigrant*innen für unsere Probleme beschuldigen. Im Laufe der Geschichte haben Politiker diese Art von Aufmerksamkeiten stets ausgenutzt — und wie du sagtest gibt es Dinge, die immer unter der Oberfläche brodeln. Wir als Zivilgesellschaft sollten versuchen, diese Spannungen zu deeskalieren. Aber dann bekommt man plötzlich einen Anführer wie Trump, und er versucht einfach, diese Spannungen eskalieren zu lassen. Irgendwann hat jedes Land seine eigene Version von Donald Trump. Das ist etwas, das alle Länder verstehen können.

Kannst du etwas zum Titel "Nowhere Generation" erzählen?

"Nowhere Generation" entstand aus einer Menge meiner Interaktionen mit unseren Fans, die überwiegend jünger sind als ich. Sie erzählten mir, wie es im Post-9-11-Amerika ist, in die Arbeitswelt einzutreten. Sie sind mit einer Rezession und einem Börsencrash aufgewachsen. Dann stürzen sie sich in dieses Rennen und versuchen, eine Karriere zu machen, so wie es ihre Eltern auch taten. Aber irgendwie bewegte sich die Ziellinie immer weiter weg. Die Dinge, die von ihnen verlangt wurden, wurden größer und die Belohnung dafür wurde kleiner und kleiner.

Ich weiß, dass in diesem Land die Vorstellung, dass man von neun bis fünf arbeiten und trotzdem arm sein kann, zur Normalität geworden ist. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der eine Familie mit nur einem Einkommen einen Lebensstil der Mittelklasse führen konnte. Das sind alles Dinge, die gerade irgendwie verschwinden. Ich glaube, die neue Generation fühlt sich unsichtbar, hat das Gefühl, nicht gehört zu werden. Und ich wollte einen Song schreiben, der das thematisiert.

Worin siehst du den größten Unterschied zwischen der Nowhere Generation und deiner eigenen?

Diese Generation spart weniger Geld. Sie besitzen seltener oder später ein Eigenheim, sie gründen entweder erst später eine Familie — oder gar keine. Es gibt eine Abwärtsmobilität. Ich denke, was sie frustriert, ist, dass von ihnen verlangt wird, nach den gleichen Regeln zu spielen, das gleiche Rennen zu laufen, all die gleichen Dinge zu tun, um auf teure Colleges zu gehen und für den Rest ihres Lebens Schulden abzuzahlen – zumindest hier in Amerika. Und diese Frustrationen werden nicht gehört, sie werden meist einfach abgetan. Sie sind zu diesem Bergauf-Rennen gezwungen, jemand verschiebt dauernd die Ziellinie, und wenn sie sich darüber beschweren, lacht man über sie. Wir müssen versuchen, die Welt mit ihren Augen zu sehen

"Ich habe nie einen Plan"

Hattest du beim Schreiben schon im Kopf, was das inhaltliche Konzept sein wird?

Ich habe nie einen Plan. Ich schreibe einfach, woran ich gerade denke, was auch immer das in dem Moment ist. Und wenn ich dann einen Schritt zurücktrete, herauszoome und eine andere Perspektive einnehme, merke ich: Oh, ich habe über etwas Konkretes geschrieben, es gibt etwas, das diese Songs miteinander verbindet. Aber das habe ich erst gemerkt, als ich mit der Platte fertig war. Und da wurde mir klar, dass es ein Thema gibt und dass der Song "Nowhere Generation" so etwas wie der Anker der Platte ist. Und da bin ich zu den Jungs gegangen und habe gesagt: "Ich denke, wir sollten das Album so nennen. "Nowhere Generation".

Wie lief der Aufnahmeprozess?

Es war diesmal sehr entspannt. Wir haben das meiste davon vor der Pandemie gemacht, also konnten wir einfach ganz normal loslegen. Wir gingen zurück in unser Familienstudio, den Blasting Room in Fort Collins, Colorado. Es gehört Bill Stevenson, der bei Black Flag spielte und bei den Descendants spielt. Das ist die sechste Platte von Rise Against, die er produziert hat. Das meiste, was die Leute hören, wenn sie Rise Against hören, ist im Blasting Room entstanden. Es war ein Nachhausekommen. Das ist eine wirklich coole und komfortable Arbeitsumgebung, ein Studio, das uns versteht. Wir haben ein großartiges Team dort mit Jason Livermore, Andrew Berlin und Chris Beeble. Wir hatten eine Menge Spaß.

Im Studio sind Rise Against ja ein ziemlich großes Team. Wie läuft denn da die Arbeitsteilung ab?

Es ist ziemlich erstaunlich, es läuft nahezu wie am Fließband. Jeder ist in seinem eigenen Zimmer und macht sein eigenes Ding. Aber es fängt damit an, dass wir die Songs schreiben. Da ist Bill normalerweise dabei — quasi als Fliege an der Wand. Und wenn wir in einer Einbahnstraße stecken, klopfen wir vielleicht an die Scheibe und sagen: "Was denkst du, Bill?" Dann mischt er sich ein, sonst hört er eher zu und lässt die Band ihr Ding machen. Aber wenn wir seinen Rat brauchen, hat er immer einen guten Ratschlag parat. Er kennt unsere Band sehr gut, seit 20 Jahren. Er weiß, was wir schon gemacht haben — und was wir vielleicht nicht tun sollten. Sobald der Text steht, muss ich ihm den geben. Er ist wie mein Professor, dem ich meine Hausaufgaben übergebe, er weist auf Schwachstellen hin, zeigt, wo etwas verbessert werden könnte. Dann geht jeder in seinen eigenen Raum und wir arbeiten getrennt an unseren Sachen.

Das klingt nach einer sehr effizienten Arbeitsweise, wie bei einer gut geölten Maschine.

Ja, die Jungs arbeiten wirklich hart. Es ist wie ein wirklich hart arbeitendes, diszipliniertes Fließband. Ich glaube, das kommt von Bills Arbeitsmoral aus seiner Zeit bei Black Flag und Descendants. Diese Bands nahmen das, was sie taten, sehr ernst. Sie übten acht Stunden am Tag. Sie nahmen das Touren sehr ernst. Und jemand wie Bill baut den Blasting Room. Er hat diese Arbeitsmoral übernommen. Ich meine, sie sind die ersten im Gebäude, die letzten, die gehen. Sie sind diejenigen, die uns dazu bringen, härter zu arbeiten. Es ist großartig, weil wir Leute haben, denen das Produkt wirklich am Herzen liegt. Und ja, es ist wirklich sehr effizient. Ich habe noch nie ein Studio kennengelernt, das so arbeitet.

Auch wenn es offensichtlich sehr gut läuft, ist die Studioarbeit stets entspannt oder wird's auch mal schleppend?

Es kann schon auch sehr mühsam sein. Das Songschreiben macht großen Spaß, aber wenn es darum geht, die perfekten Gitarrentakes einzuspielen, mit dem perfekten Ton, der perfekten Stimmung, dann kann das schon mühsam werden und sich manchmal wie eine lästige Pflicht anfühlen. Man könnte viel am Computer machen, aber wir wollen alles selbst spielen. Das kann schon mal acht Stunden dauern, aber wir machen es solange, bis wir es genau richtig hinbekommen haben. Aber ja, wenn an zwanzig Songs arbeitest, gerade bei Song Nummer zwölf bist und seit einiger Woche durchgehend Gitarre spielst, kann das auch schon mal ermüdend werden.

"Jeder Weltuntergangskult verlässt sich auf die Idee, dass die Welt zu seinen Lebzeiten untergehen wird."

Als politischer Songwriter oder als politischer Mensch neigt man immer dazu zu denken, dass die Zeiten, in denen man sich gerade befindet, die schlimmsten Zeiten sind, die die Welt je gesehen hat.

Jeder Weltuntergangskult verlässt sich auf die Idee, dass die Welt zu seinen Lebzeiten untergehen wird. So bringt man den Kult zum Laufen. Und wenn sie dann nicht untergeht, ist es eine riesige Enttäuschung. Ich bin sicher, jede Generation glaubt, dass ihre Zeit vielleicht die schlimmste Zeit ist. Ich glaube definitiv nicht, dass dies die schlimmste Zeit der Geschichte ist, die Geschichte war schon ein ziemlich gewalttätiger Ort. Es gibt neue Dinge, wir haben Informationen in der heutigen Gesellschaft, die zu Waffen werden. Propaganda ist etwas, das es immer gegeben hat, aber nicht in dem Ausmaß und der Wertigkeit wie jetzt. Wir leben in einer Welt, in der ein Atomkrieg heute vielleicht nicht unsere größte Angst ist. Aber Informationen sind mächtiger und gefährlicher denn je, Informationen und Fehlinformationen und Desinformationen.

Die Fähigkeit der Mächtigen, Informationen zu manipulieren, erlaubt es ihnen, Menschen zu manipulieren. Und wir sehen die Auswirkungen davon. Das ist für mich die stärkste Waffe, die es auf diesem Planeten gibt. Wir sind erst in der frühen Phase davon. Wir sind noch dabei, herauszufinden, wie wir damit umgehen können. Ich glaube nicht, dass das jemand erwartet hat. Hier in Amerika haben wir die Medizin politisiert, wir haben einen Virus politisiert, und wir politisieren das Gegenmittel, den Impfstoff, und ich hätte nie gedacht, dass es so etwas jemals geben würde. Wenn wir es schaffen, das zu vermasseln, können wir noch eine Menge Dinge vermasseln. Ich glaube nicht, dass dies der schlechteste Zeitpunkt der Geschichte ist, aber ich denke, dass jede Generation mit einzigartigen Herausforderungen und neuen Hindernissen konfrontiert wird. Es liegt in ihrer Verantwortung, eine Lösung für diese Sache zu finden.

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