laut.de-Kritik

Geschichte eines Hypes, zurück gespult zum Anfang.

Review von

Zu Anfang des ersten Albums von Sam Smith "In The Lonely Hour" herrscht Kino im Ohr. Da beschreibt Sam - damals er, heute, zum zehnten Jahrestag ("10th Anniversary"), them/they - wie sein Protagonist zittert. Und an dieser Stelle platzen, in dicksten Schichten aufgetragen, übelst theatrale Streicher herein. Sie dürfen ein paar Takte lang auftrumpfen. Dann tauchen sie wieder ab.

Die Sonderausgabe als Doppel-CD "10th Anniversary Edition" bietet zusätzliche Tracks, andere Versionen, Live, Akustik, Duette. Und sie ist eine Gelegenheit, die alten Lieder noch mal neu wirken zu lassen, all die kurzen Liebesgeschichten. Die erste Abhandlung, "Good Thing", lässt sich als innerer Monolog über Schüchternheit lesen, aber auch über Zweifel daran, sich an eine bestimmte Person wirklich zu binden. Die Nummer bleibt in der Hinsicht so ambivalent, dass verschiedene Szenarien denkbar sind. Von der Dringlichkeit der Musik ausgehend, scheint das fragliche Paar mindestens vorm Traualtar zu stehen und dort kalte Füße zu bekommen.

Das alles spielt sich aber nur im Kopf ab. Greifen wir zur Deutung, die der Artist selbst in einem Interview damals lieferte: Das Album handelt von einer unerwiderten Liebe, alle Tracks beziehen sich auf dieselbe männliche, begehrte Person.

In "Make It To Me" regiert lediglich eine Fata Morgana des Ideal-Wesens im Sinne des perfekten Traumprinzen, der auf dem weißen Pferd erscheinen wird. Und zwar samt der Annahmen, dass diese perfekte Gestalt noch Vervollkommnung durch eine Partnerschaft benötige und vom Schicksal schon lange für genau diese Beziehung vorher bestimmt sei. "You're the one designed for me / A distant stranger that I will complete / I know you're out there we're meant to be / So keep your head up and make it to me." - Gibt es wirklich noch Leute, die auf solche Schmonzetten stehen?!

Im Verlauf des Albums heißt es dann zum Beispiel "I hate to say that I love you when I'm feeling down" ("Not In That Way") oder "I can't believe you let me down / But the proof's in the way it hurts / For months on end I've had my doubts / Denying every tear" ("I'm Not The Only One"). Dann bleibt unklar, ob es doch mal zu einem Beziehungsversuch kam oder der Verliebte im Unklaren warm gehalten wurde. Nachvollziehen können sicher viele die Zweifel und Qualen, da trifft Smith einen Nerv. Allen Bekenntnissen gemeinsam sind das Hadern mit Gefühlen und eine fette Portion Melodramatik in der musikalischen Gestaltung auf allen Ebenen. Wie Sam singt, klingt schön, aber gebrochen und auf der Suche nach etwas, das man nicht findet. Wie die Arrangements viel dicken Plüsch aufschichten, wirkt ein bisschen weniger schön und zu üppig.

Zumal der Aufbau vieler oder der meisten Tracks dem gleichen Rezept folgt: Erst einmal bounzen Urban R'n'B-Beats und zirpen Folktronic-Gitarren, und dann wird es auf einmal alles immer viel lauter, mehr, quasi Barock-Pop mit viel Überbau, unidentifizierbar, voll geklatscht mit Sound-Masse, Hauptsache laut. In "I'm Not The Only One" klappt es ohne dieses 'too much', und speziell der Move, A$ap Rocky das Intro rappen zu lassen (später ergreift er noch mal das Wort), bricht den Pathos des Stücks. Eine neue Version mit Alicia Keys rutscht trotz Keys-typischer Rhythm-Vibes in eine Art Country-Quäkgesang ab.

Manches, so auch der Bonus-Track "Writing's On The Wall", würde anders, etwa als schlichte Klavierballade, erheblich mehr Eindruck machen, und könnte mit seinen Schnörkeln und dem Übermaß an Cello und Geige eher im Film-Kontext auf einem Soundtrack überzeugen. Sam singt hier schon extrem intensiv und durchdringend, und wenn auf viel Stimme viel Untermalung (und speziell in "Nirvana" auf noch viel mehr Stimme in Chor-Form) trifft, hat das null Dynamik.

2014 versus heute: Da wandelte sich manches. Heute ist der Major-Markt ein anderer, Chris Brown verkauft Merch-Shirts für 56 Euro das Stück, ohne rot zu werden, und die Swifties regieren die Welt. Im Grunde ist Sam Smiths Spiel mit der Verzweiflung ("And I try to imagine something closer / and somebody who is good for me / I'm so tired of all this searching") inmitten von viel gefühliger Konkurrenz ein alter Hut, der sich ein bisschen platt gesessen anfühlt.

Im Konzert beweist Sam derweil eine ganz andere Klasse. Die herzerweichende Piano- und Akustikgitarre-Fassung "I've Told You Now (Live)" ist zutiefst eingängig und intensiv. In solchen Momenten wird klar, dass die Jubiläums-Edition wirklich ein Gewinn ist und das ursprüngliche Album erst interessant macht.

Sie hat ihre Highlights, wenn elektronische Reverb- und Verzerr-Effekte für Pep sorgen, und wenn Smith sich im Falsett räkelt, so im coolen Northern Soul-Dancer "Restart" und in "Life Support". In solchen Momenten bleibt der Debütant von einst auch zehn Jahre später unique. Das Lied übers Licht, das nachts anbleibt, damit es sich alleine im Bett nicht so einsam anfühlt, ist das beste hier.

Das Künstliche, das in "Restart" die Stimme als Neon-Farbklecks verwendet und Beats-technisch an den New Jack Swing von Whitney Houston und Co. um 1990 anknüpft oder in "Safe With Me" die Vocals mit Slow-Mo stretcht, in tiefste Kellertöne herunter drückt, staucht, dehnt und wie Gummi behandelt, das alles nimmt bereits das Phänomen Hyperpop vorweg, für das Sam heute steht. Die Balladen-Version des bei Whitney tanzbar aufgebrezelten "How Will I Know" entspricht sicher der Themenstellung mit dem Unglücklich-Verliebtsein. Sie reißt aber nicht vom Hocker. Ein interessanter Bonus-Titel aus der Sammlung von Stücken, die's nicht aufs Album schafften, ist er trotzdem.

Das Entscheidende, was Smith auf seinem Debüt zu einem besonderen Artist machte, war außerdem die Gospel-Grundierung, wie sie sich zum Beispiel mehr als deutlich in "Drowning Shadows" Bahn bricht, und der Über-Hit: "Stay With Me". "Drowning Shadows" findet sich auf dem Original-Album noch nicht mal, fällt hier aber als einer der klarsten und besten Tracks auf.

"Stay With Me" kommt in der Neuauflage in den Genuss einer Künstlerin, die dieses Stelldichein von Gospel-Background und modernem R'n'B besser als jede:r andere beherrscht: Mary J. Blige! Das Duett von Sam und Mary läuft leider nur kurz, bescheidet sich aufs Wesentliche und fokussiert sich auf den schönen Zusammenklang der beiden Stimmen in dieser hymnischen Melodie. Eine ältere Aufnahme der romantischen Zweisamkeit und überhaupt eine große Übereinstimmung der Tracklist finden sich auf "In The Lonely Hour: Drowning Shadows Edition" vom Herbst 2015.

Und dann ist da natürlich noch die Vorgeschichte, die jetzt aufs Feinste ausgerollt wird, mit Disclosure und mit Naughty Boy. Bereits ein Jahr vor seinem eigenen Longplay-Debüt landete Smith als Gast und reichlich verdient auf Platz Eins in einer Reihe von Ländern. Das war die Hook von "I'm covering my ears like a kid / When your words mean nothing, I go la la la / I'm turning up the volume when you speak / 'Cause if my heart can't stop it / I find a way to block it, I go / La la, la la la la la / na na, na na na..." Manchmal setzen sich eben doch Sachen mit Substanz in den Charts durch, so wie damals "La La La [Naughty Boy ft. Sam Smith]".

Trackliste

CD1

  1. 1. Good Thing
  2. 2. Stay With Me
  3. 3. Leave Your Lover
  4. 4. I'm Not The Only One
  5. 5. I've Told You Now
  6. 6. Like I Can
  7. 7. Not In That Way
  8. 8. Make It To Me
  9. 9. Lay Me Down
  10. 10. Little Sailor
  11. 11. Money On My Mind
  12. 12. Life Support
  13. 13. Restart

CD2

  1. 1. Safe With Me
  2. 2. Nirvana
  3. 3. I've Told You Now (Live)
  4. 4. Latch [Disclosure ft. Sam Smith]
  5. 5. La La La [Naughty Boy ft. Sam Smith]
  6. 6. How Will I Know
  7. 7. Latch (Acoustic)
  8. 8. Drowning Shadows
  9. 9. Writing's On The Wall
  10. 10. Stay With Me ft. Mary J. Blige
  11. 11. I'm Not The Only One ft. A$AP Rocky
  12. 12. Lay Me Down ft. John Legend
  13. 13. I'm Not The Only One ft. Alicia Keys [Digital Bonus]

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