laut.de-Kritik
Clubsounds für die Nachtwanderung.
Review von Ingo ScheelMit Vocals hatten es Simian Mobile Disco seit längerem nicht mehr so ernst genommen, umso erstaunlicher, dass der Gesang auf "Murmurations" als Fundament der Platte dient. Verantwortlich dafür ist der Deep Throat Choir, ein von Luisa Gerstein (Ex-Totally Enormous Extinct Dinosaurs) im Londoner Vorort Hackney anno 2013 gegründetes, rein weibliches Gesangskollektiv.
Schon der Einstieg "Boids" ist Stimme, Stimme, Stimme. Als würde man in ein Dorf geraten, das seit Dekaden keinen Anschluss mehr an die moderne Zivilisation hat, klingen hier die tiefen weiblichen Kehlen. Als hätte man die verhuschten Jungfrauen in Leinenkleidern auf den sandigen Marktplatz getrieben, wo sie in einer Mischung aus Wehklagen und betörendem Sirenentum die neue Jahreszeit, das Weihefest, den 1. Mai oder was auch immer herbeisingen.
Benannt ist "Murmurations", das fünfte Album des Duos Jas Shaw und James Ford (u.a. Produzent von Arctic Monkeys, Haim), nach jenen ebenso geheimnisvollen wie faszinierenden Flugformationen von Sperlingsschwärmen. Der Titel könnte kaum passender gewählt sein, denn genau so klingen Tracks wie "Boids", "Caught In A Wave" oder "A Perfect Swarm" - mal auseinander fallend in alle Richtungen, dann wieder Fahrt aufnehmend, plötzlich von klarer Struktur getragen, von ungehörter Stimme in Formation gebracht, dann wieder auseinanderstobend, wie auf ein geheimes Signal.
Schwer zu sagen, wer hier wem folgt - der Choir den ausgelegten Synth-Spuren von SMD oder das Duo den mäandernden Gesangslinien. Alles umspielt alles, barfüßig, schwebend, dann wieder bedrohlich und dunkel. "Murmurations" ist Clubsound, Disco und Techno für die Nachtwanderung, als hätte man den Folklorehorror-Klassiker "The Wicker Man" als Klangkomposition für das nächste Jahrtausend adaptiert. Ein verhuscht-verstörendes Werk, dessen Reiz sich nach und nach erst entfaltet, um dann völlig einzunehmen.
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