laut.de-Kritik

Ein leuchtendes Genremix-Feuerwerk.

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In den letzten fünf Monaten stolperte wirklich jeder in der Metalszene über Sleep Token. Angefangen bei der Hitsingle "The Summoning", mit der ihre Spotify-Hörerzahlen in die Höhe schossen, über YouTube-Reaction-Wurmlöcher bis hin zu investigativen Reddit-Analysen ihrer Backstory: Niemand war auf digitalen Plattformen vor ihnen sicher.

Das Quartett spinnt seit 2019 mit Hilfe von Masken und bodenlangen Roben, Runen und einer mystischen Lore ein Mysterium um sich. Zusammen mit ihrer einnehmenden Musik führte das zuletzt zu einem derartigen Hype, dass sie kurzerhand alle bisher für 2023 angekündigten Shows innerhalb eines Tages als ausverkauft deklarierten. Nun erscheint mit "Take Me Back To Eden" ihre dritte LP und erfüllt die großen Erwartungen voll und ganz.

Obwohl bei ihrer Beschreibung oft das Wort "Metal" fällt, ist es gar nicht so leicht, sie in eine Genreschublade zu stecken. "Take Me Back To Eden" vereint Elemente aus Metal, Pop, Funk, R'n'B, Jazz, Ambient ... die Liste ist lang. Eine geballte Ladung aus allem präsentiert "The Summoning", das schon vor Albumrelease zu ihrem meistgehörten Song auf Spotify wurde. Gibt man sich den sechseinhalb Minuten hin, ist schnell klar, wieso. Trotz proggigem Aufbau speichert er sich sofort im Gehirn ab.

Der epische Refrain und die einzigartige Stimme des Sängers Vessel, der zwischen Gesang, Flüstern und Screams hin- und herspringt, heben den Track auf das nächste Level. Neben der Gesangsakrobatik beeindruckt II, der sich am Schlagzeug die Seele aus dem Leib spielt. Die Formation verbindet auf "The Summoning" die unterschiedlichsten Genres mit einer unglaublichen Leichtigkeit. Auf den atmosphärischen Einstieg folgt ein Feuerwerk aus Drums, Gitarre und Bass, das sich dem Gesang zugute in den Strophen wieder zurückzieht. An den Refrain schließt sich ein Breakdown an - soweit, so genretypisch. Wie sie dann aber ein Gitarrensolo, eine ambiente Passage, die den Hörer in eine andere Welt beamt, und einen funkigen, verführerischen Teil mit Saxophoneinsatz smooth mit dem Rest verknüpfen, bleibt genau wie ihre Identität ihr Geheimnis.

Neben dem Ende von "The Summoning" liefert "Granite" eine Erklärung dafür, warum Sleep Tokens "Follower" das Genre der Band spaßeshalber Hornycore tauften. "I was more than just a body in your passenger seat / You were more than just somebody I was destined to meet / I see you go half blind when you're looking at me / But I am" singt Vessel über einen groovy Beat und einen Synth, der den R'n'B-Vibe ergänzt. Natürlich folgt auch in diesem Lied eine Wendung: Ein schriller Klang setzt einen Cut und leitet den Breakdown ein, in dem Bassist IV und Gitarrist III erstmals zum Zug kommen und sich gemeinsam mit II ausleben.

"Aqua Regia" startet ebenso reduziert wie "Granite", bleibt aber um einiges ruhiger. Den Mittelpunkt bilden Vessel und das Klavier, auf dem er zur Hälfte hin eine Jazzeinlage vollführt. Textlich offenbart er nach "Alkaline" erneut seine Vorliebe für Chemie-Metaphern: "Aqua Regia", zu Deutsch "Königswasser", ist der Name einer starken Säure. Trotz ruhigerer Herangehensweise an die vierte Single entsteht keineswegs Langeweile. Ist man mit ihren beiden vorigen Alben vertraut, erwartet man schon solche entspannteren Momente.

Die gibt es auch mit "DYWTYLM" und "Are You Really Okay?". Ersterer führt den Hörer mit seinem poppigen Sound in die Irre, denn die weniger heiteren Lyrics wagen einen Blick ins Innere und handeln von fehlender Selbstliebe. Trotz tieferer Bedeutung steht die letzte Single in keinem Verhältnis zu den vorangegangenen. So kann sie auch mit "Vore", dem härtesten Song des ganzen Sleep Token-Katalogs und damit dem kompletten Gegenstück, nicht mithalten. Der ist dafür um so stärker. Die Blackgaze-Nummer ist gespickt mit Fry Screams, die immer wieder von atmosphärischen Einlagen abgelöst werden. Dagegen legen sich in "Are You Really Okay?" der Gesang und die klare Gitarre beschützend um den Hörer. "Please don't hurt yourself again", bittet der maskierte Fronter.

Ein bedrohlich klingender Synth bildet die Basis für "Chokehold", in dem Vessel seine Technik und Range unter Beweis stellt, indem er seine Stimme ohne Anstrengung in die höchste Lage gleiten lässt. Den Spannungsaufbau zum krachenden Breakdown meistern Sleep Token genau so wie jenen zum Refrain, der dem aus "The Summoning" in nichts nachsteht.

Das melancholische Klavierintro in "Ascensionism" tritt mit seiner verletzlichen und emotionalen Art in die Fußstapfen von den früheren Songs "Atlantic" und "Blood Sport". Bei einer Länge von sieben Minuten weiß man aber, dass "Ascensionism" nicht lange so bleiben wird. Und so geht der zunächst vorsichtige Gesang in Sprechgesang über, zwischendrin baut Vessel wieder eine schöne Vocalmelodie ein. Das Highlight kommt aber zum Schluss: Für den zweiten, durch einen Scream eingeleiteten Breakdown legt er alle Emotionen und Wucht in seine Stimme und induziert so Gänsehaut. Dasselbe gelingt ein zweites Mal auf "The Apparition", was es nicht weniger eindrucksvoll macht. Den Trip Hop-Beat, der am Ende einsetzt und gleich wieder ausfadet, hätte es jedoch nicht gebraucht.

In gut achteinhalb Minuten führen Sleep Token in "Take Me Back To Eden" durch das Edenreich. Naturgeräusche wie zwitschernde Vögel geben einen Eindruck der mystischen, außerweltlichen Umgebung. Die ätherischen Klänge werden vom Gitarren- und Schlagzeugdonner ersetzt, das im Refrain hereinbricht. "Take Me Back To Eden" durchläuft unzählige Stimmungswechsel, mit denen man kaum mithalten kann. Am Ende wird es dann sogar noch härter als auf "Vore". Auf "Euclid" sind die Umschwünge abrupter und weniger hörerfreundlich; die Spannungsauflösung folgt schließlich mit dem Einsetzen der vollen Instrumentalbegleitung, in die sich das im Intro eingeführte Klavier gut integriert.

Die maskierte Gruppe zündet auf "Take Me Back To Eden" ein leuchtendes Feuerwerk aus den unterschiedlichsten Genres und beweist, dass der Hype um sie nicht ungerechtfertigt ist. Mit ihren vielen Facetten und Vessels unverwechselbarer Stimme ziehen sie jeden in ihren Bann. Das Album bleibt trotz kleinerer Schwachstellen nicht nur lange im Gedächtnis, sondern auch in der eigenen Heavy Rotation.

Trackliste

  1. 1. Chokehold
  2. 2. The Summoning
  3. 3. Granite
  4. 4. Aqua Regia
  5. 5. Vore
  6. 6. Ascensionism
  7. 7. Are You Really Okay?
  8. 8. The Apparition
  9. 9. DYWTYLM
  10. 10. Rain
  11. 11. Take Me Back To Eden
  12. 12. Euclid

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11 Kommentare mit 12 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Späte Ergänzung: Die Vocals sind grausamst. Gerade wenn sie minutenlang so typisch auf einer bis drei Noten herumreiten. Dann noch peinliche Pitch-Effekte plus Autotune. Die Mischung aus Prog und Axe-Spray geht für mich nicht auf. Als Instrumentals wären die Tracks hundert mal besser.

  • Vor einem Jahr

    Also Chokehold gefällt mir ja wirklich noch, danach wird's aber zum Teil sogar peinlich.

    Ich finde den Ansatz ja gut, Metal mit Poop zu verbinden und es kann vielleicht auch funktionieren. Aber so eher nicht. Ab und an hat man ja Angst, dass der Sänger selbst bei seiner Performance einschläft. Hier ist dann die Gitarrenfraktion gefragt, dreht heftig auf und weckt seine Lebensgeister. Meine leider nicht.

    Wenn man gerade Holocene gehört hat, was Elektro mit Post-Metal verbindet und mMn trotzdem nicht das Überalbum ist, dann weiß man nicht, warum das hier jetzt so gut sein soll.

  • Vor 10 Monaten

    Was wird diese Band denn so gehyped't?

    Das ist ja grauenhafte Musik. Ich bin ja deswegen Metalfan, damit ich mir so einen Mist nicht anhören muss. Und hört mir auf mit "engstirnige Denke der Metalheads" auf.
    Schon alleine bei der Stimme (viel mit Pitching) gehe ich die Wände hoch. Lasst uns ehrlich sein: die wollen die neuen Ghost sein und Arenen und ihre Kasse füllen, aber Emotionen lösen sie wahrlich keine aus.