16. September 2020

"Fiktion ist das bessere Leben"

Interview geführt von

Ist das Gitarrensolo Sinnbild für Toxic Masculinity? Steht in der Abbey Road das beste Studio der Welt? Was degradierte Tauben vom Aristokraten-Symbol zu den Ratten der Lüfte? Und für welche Fernsehserie komponierte Sophie Hunger eins der markantesten Stücke ihres neuen Albums "Halluzinationen"? Die Schweizerin hat Antworten für uns.

Gespräche mit Sophie Hunger sind wunderbar unvorhersehbar. So geht es im Interview über ihr neues Album "Halluzinationen" nicht nur um die titelgebenden Sinnestäuschungen und die unter besonderen Voraussetzungen entstandenen Aufnahmen in den Abbey Road Studios. Sondern eben auch um Aale, Tauben und Eremiten.

Sophie, was liest du gerade?

Es geht um einen Aal. Warte, darf ich es kurz googlen? Ich weiß nicht, wie es heißt. Schlimm, haha. "Das Evangelium der Aale" von Patrick Svensson!

Eigentlich geht es darin um die Beziehung zwischen dem Erzähler und seinem Vater. Die waren immer Aal-Fischen. Und der Aal ist eben ein sehr spezielles Tier. Er vermischt die Erzählung mit dem, was der Aal ist. Der Aal war bis vor wenigen Jahrzehnten ein wissenschaftliches Kuriosum, weil niemand wusste, wie er sich fortpflanzt. Sogar Sigmund Freud und Co. haben über den Aal geschrieben, weil er ein solches Rätsel war. So geht es zum einen um das Rätsel des Aals und zum anderen auch um die rätselhafte Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Vater.

Halb-fiktional also?

Das ist meine Beurteilung, ja. Ich weiß es aber gar nicht. Vielleicht ist auch alles erfunden.

Viele deiner Alben scheinen teils von Büchern inspiriert worden zu sein – "Supermoon" zum Beispiel, "Molecules" ebenso. Auch "Halluzinationen"?

Auf gewisse Weise schon, ja. Ich habe mich gefragt, was ich eigentlich mache im Leben – und mich damit beschäftigt. Das, was ich mache, ist: Ich erfinde Sachen. Das lässt sich unterschiedlich beschreiben. Man kann sagen: Es sind Halluzinationen. Oder man kann sagen: Es sind Seifenblasen. Oder Träume. Tagträume. Ich wollte ein Album machen, das sich diesem Thema widmet – dem Imaginären. Bücher gehören ja auch zu dieser Kategorie von Gegenständen. Wahrscheinlich jedes Mal, wenn ich einen Roman lese, bestärkt mich das zu glauben, dass es gut ist, seinen Tagträumen nachzuhängen. (lacht)

Fiktion nahm in deinem Schaffen schon immer recht viel Platz ein. Welche Rolle spielt Fiktion für dich?

Es ist das bessere Leben.

Bei einer Halluzination vermischen sich Realität und Fiktion. Könnte man sagen, dass du in deiner Musik versuchst, (d)eine Realität durch Fiktion darzustellen?

Ja, genau so würde ich es sagen! Ich bin überzeugt davon, dass man die Realität über Fiktion viel klarer darstellen kann als über die Realität. Es gibt auf dem Album einen Satz auf dem Album, wo ich versucht habe, das in Worte zu fassen. Ganz am Schluss in "Maria Magdalena" singe ich: "Truth is born in the shape of a dream".

Außerdem singst du: "I can't read a room, but I can write one".

Ganz genau. Es gibt überall diese kleinen "Traumspuren" oder "Erfinderspuren". Ich weiß nicht, wie man das nennt.

"Maria Magdalena" ist wohl ein gutes Beispiel dafür, wie du Dinge aus der Realität greifst und dann weiterspinnst. Folgst du dabei in der Regel einem bestimmten Muster?

Das ist so: Es passiert etwas und ich will es jemandem erzählen. Aber dann merke ich: Wenn ich es so erzähle, wie es wirklich passiert ist, habe ich das Gefühl, zu lügen. Es kommt nicht da ran, wie es sich angefühlt hat. Wenn ich es anders sage – also mit einer Metapher oder einer Geschichte –, kommt derjenige, dem ich es erzähle, viel näher an das Gefühl ran, das ich erlebt habe. Ich weiß nicht, warum das so ist. (lacht)

Du willst also über Fiktion Gefühle transportieren?

Genau, ja. Das geht besser.

Denkst du, das ist die auf dem Album gelungen?

Das weiß ich nicht. (lacht) Es sind immer Versuche. Ob es gelingt, weiß ich nicht. Schwer zu sagen. Gute Frage, aber eine, die nicht ich beantworten kann.

Zu "Molecules" hattest du dir ein Sprachfeld überlegt, wolltest z.B. chemische Begriffe in die Texte flechten. "Halluzinationen" wirkt nun wie das Gegenteil, es geht weg von der materiellen Ebene. Hast du dir auch hierfür wieder eine Wortschatz-Vorgabe gestellt?

Peu-a-peu entstand das. Ich hatte mich auf das Imaginäre fokussiert, weil es eben so viel mit meinem Leben bzw. dem, was ich mit meinem Leben bisher gemacht habe, zu tun hat. Ich denke, das kann man schon als Kontext oder sogar Diskurs bezeichnen.

In unserem letzten Gespräch meintest du, dass dich alles inspirieren kann – selbst der Käfer, der durch das Loch einer Tür krabbelt. Tatsächlich spielte diesmal ein Tier eine große Rolle: Die Taube. Wie kam es dazu?

Ja, das ist sehr wichtig! Ich kam gerade von der "Molecules"-Tour nach Hause. Das war Januar oder Februar 2019. Eines Morgens kam eine Taube in meine Wohnung. Ich hatte so Angst und fand sie so eklig und wollte sie rausschmeißen – und hab' das nach mehreren Versuchen dann auch geschafft. Als sie draußen war, hat mich eine Traurigkeit überfallen. Ich fragte mich, warum ich das gemacht habe. Sie kam doch zu mir – wieso habe ich sie als Eindringling wahrgenommen? Warum habe ich keine Sekunde gezögert, sie als Bedrohung zu sehen? Ich fing an, darüber nachzudenken. Dann fing ich an, über die Taube zu lesen. Was ist das für ein Tier? Ein sehr interessantes, wie sich herausstellte.

Früher, vor ungefähr 200 Jahren, war die Taube ein sehr angesehenes Tier. In Frankreich durften zum Beispiel nur Aristokraten Tauben halten. Das erste, was die Revoluzzer im Zuge der Französischen Revolution zerstörten, waren die Taubenschläge – weil es ein Sinnbild war. Noch heute sind 40 Prozent der Tauben in Paris Abkömmlinge der aristokratischen Tauben. Aber warum war die Taube so angesehen? Sie war früher sehr wertvoll. Sie war da für die Ernährung – man hat viele Tauben gegessen. Ihr Kot war das beste Düngemittel. Sie diente zum Informationsaustausch, also auch für militärische Zwecke – als Brieftaube. Und man legte halbe Tauben auf Wunden für medizinische Zwecke. Peu-a-peu verlor sie diese Werte, wurde zum Beispiel ersetzt durch das Huhn. Das Huhn konnte man noch besser ausbeuten. Es legt auch unter größtem Stress noch Eier. In der Landwirtschaft erfand man den Stickstoff, in der Medizin Antibiotika. Und auch für den Informationsaustausch erfand man neue Technologien, etwa Morsen. So verlor die Taube an Wert und wurde auf einmal zu etwas, was man plötzlich ganz eklig fand. Sie brachte keinen Nutzen mehr innerhalb des kapitalistischen Systems.

Heute werden Tauben diskriminiert. Man sagt, sie sei eklig, krankheitserregend und so weiter. Dabei ist sie das gar nicht. Sie ist ein sehr sauberes Tier. Diese Entwicklung hat mich fasziniert. Das lehrt auch viel zum Thema Diskriminierung. Wenn etwas im System keinen objektiven Wert hat, beginnt man sofort, es mit negativen Attributen zu belasten. Ich fand eine heimliche Zärtlichkeit für Tauben, die auch auf dem Album rauskommt. Die Vinyl wird in der Mitte einen Taubenkopf haben. Sie ist überall. Ich habe gerade noch ein Lied geschrieben, das "Pigeons" heißt. Leider ein bisschen zu spät.

Das wird man dann auf der Tour hören?

Ja!

"Meine Wohnung war das Exil"

Bildete die Taube den Rahmen für das Album?

Ich weiß nicht... Ah da fällt mir noch was ein. Ich hatte ja dieses Thema mit den Halluzinationen, Imagination. Ich hab' das meiner Schwägerin erzählt, die Kunstgeschichte studiert hat. Sie meinte: "Dazu fällt mir die Figur des Eremiten ein." Eremiten leben oft außerhalb der Stadt, sind also nicht mitten in der Gesellschaft. Man sagt, sie würden halluzinieren, Dinge sehen, die es nicht gibt, und Dinge hören, die andere nicht hören. Je nachdem hat man dann gedacht, es sei was Positives oder – wenn es Frauen waren – oft etwas Negatives und hat sie verbrannt. Diese Eremiten hatten meist ein Tier dabei – oft ein Vogel. Auf Porträts sind sie häufig damit abgebildet, als Partner. Und ich so: "Waaas?" Ich weiß noch, wir waren wandern, als sie mir das erzählt hat. Ich hab' sofort angehalten und geschrieen: "Sag mir, dass das wahr ist! Oh mein Gott, die Taube!" (lacht) Ja! Das hat für mich dann alles zusammengehört. Meine Wohnung war das Exil, die Höhle.

Ah, mir fällt gerade noch ein Buch ein, das ich gelesen habe: "Hallucinations" von Oliver Sacks. Das ist eher naturwissenschaftlich. Er schreibt, dass Halluzinationen aller Art – also nicht nur visuelle, sondern auch auditive – oft bei Menschen auftreten, die unter einem Mangel leiden. Zum Beispiel Leute, die während des Lebens erblinden. Die also vorher gesehen haben. Und zwar, weil das Gehirn...

...etwas ergänzen möchte?

Ja, genau. Oder ersetzt. Nach einer gewissen Zeit beginnt das Gehirn, den fehlenden Impuls durch eigene Impulse zu ersetzen. Das ist doch unglaublich interessant oder? Das ergibt Sinn. Wenn man Lieder schreibt oder Sachen erfindet, macht man das ja auch aus einem Mangel heraus. Man denkt sich: "Da fehlt doch was" und erfindet dann etwas, damit da nichts mehr fehlt.

Wie beim berühmten Fata Morgana-Beispiel. Du läufst durch die Wüste, wo absolut nichts ist, und bildest dir ein, dort sei etwas.

Ganz genau! Plötzlich ergab von mehreren Seiten her alles Sinn!

Nochmal kurz zu Taube und Kunst: Auch in christlichem Kontext nimmt die Taube ja eine große Rolle ein, als Friedenstaube. Auch das hat nichts mehr mit unserem Taubenbild von heute zu tun. Man könnte vom Niedergang eines Symbols sprechen.

Genau, das ist wirklich so. Der einzige Grund, warum man immer noch von Friedenstauben spricht, ist, dass der Begriff aus einer Zeit stammt, wo die Taube eben noch symbolvoll war. Das kommt aus der Bibel oder?

Ja, bei Noah und der Arche.

Wenn man das heute schreiben würde, wäre das keine Taube mehr, sondern vielleicht irgendwas, was wir heute gut nutzen. Eine Kuh? (lacht)

Wobei die Kuh auch schon größeren Stellenwert hatte. Im alten Ägypten zum Beispiel.

Stimmt! Und in Indien. Tauben sind im Christentum auch die einzigen Tiere, die nicht vom Teufel befallen werden können. Auch da sieht man wieder die positive Besetzung der Taube.

Heute sind es die Ratten der Lüfte. Was ist deiner Meinung nach heutzutage die Taube der Gesellschaft?

Hm, ich weiß nicht. Hunde? Aber das ist nicht eindeutig. Es gibt ja auch Straßenköter. Es müsste etwas sein, was nur die Reichen haben.

Im Vergleich zu früher sind Hunde aber besser gestellt.

Ja, sie gelten mittlerweile auch als psychologische Unterstützer für Menschen. Weil die Menschen sich jetzt nicht mehr untereinander unterstützen, brauchen sie Hunde. (lacht) Hm, schwierige Frage. Ich weiß nicht, ob das überhaupt noch ein Tier wäre. Viele Nutzen der Tiere haben wir durch maschinelle Dinge ersetzt. Vielleicht das Auto?

Es bewegt sich zumindest auch fort.

Haha, ja. Es bewegt sich fort. Es hat zumindest den Anschein von Freiheit. Ja, das Auto finde ich ein gutes Beispiel – gerade in Deutschland. (lacht)

Drehen wir das Ganze mal um, denn du singst auf dem Album auch: "21st century sick". Was ist deiner Meinung nach die Krankheit des 21. Jahrhunderts? Bezieht sich die Zeile überhaupt auf so etwas?

Jein. Das kommt in "Security Check" vor. Was singe ich vorher? "In a second from heaven to pit / Nothing, nothing, nothing sticks / I'm 21st century sick." Das Oberflächliche, das Unverbindliche, die fehlende Tiefe, die fehlende Konzentration, die fehlende Aufmerksamkeit. Solche Sachen würde ich sagen. Aber am Flughafen, im Kontext dieses Liedes, werden solche Dinge sehr offensichtlich. Es gibt ja schon noch Orte, wo nicht nur Oberflächlichkeit herrscht. Ich fühle mich nicht die ganze Zeit "21st century sick". (lacht) Das war mehr so ein Moment.

Merkst du diese Oberflächlichkeit, das Flüchtige, auch bei dir selbst oder ist das vor allem eine Beobachtung?

Ich merke das schon auch bei mir selbst. Es ist wahnsinnig schwierig, einen Raum zu schaffen, wo man in die Tiefe gehen kann. Man wird ja ständig gestört. Sei es vom Telefon oder der lauten Außenwelt. Also "laut" nicht im eigentlichen Sinne...

Viel auf einmal?

Ja. Man hat wenig Zeit, um wirklich nachzudenken. Man muss sich ganz schön organisieren, um einen Raum zu kreieren, wo man nachdenken kann, wo man nicht abgelenkt ist. Das würde wahrscheinlich jeder bestätigen. Ein Vorteil ist, wenn man wie ich noch eine Jugend ohne Internet und so hatte – um sich noch erinnern zu können, wie man an der Bushaltestelle stand oder im Zug saß und einfach nachgedacht hat, weil man nichts hatte. Das passiert heute nicht mehr einfach so. Heute muss man das organisieren. Man muss das Telefon wegschmeißen – was ja fast nicht mehr möglich ist. Es könnte ja der Chef anrufen. Man ist ein bisschen gefangen im System.

"Es war absolut legendär!"

Sprechen wir ein bisschen über die Musik. Nach "Molecules" startete eine Tour in mehreren Abschnitten – erst eine Clubtour, mit jeweils mehreren kleineren Shows in verschiedenen Venues pro Stadt, dann dein bisher größtes Solokonzert im Berliner Tempodrom, dann Festivalauftritte. Ich sah dich zuerst im Festsaal Kreuzberg, dann im Tempodrom, schließlich beim Burg Herzberg Festival und mir kam es so vor, als hättest du nach und nach das anfangs sehr elektronische Setting um mehr und mehr zusätzliche Instrumente erweitert, was in ähnliche Arrangements mündete wie nun auf "Halluzinationen". Enstand so der Soundentwurf für das Album?

Ja, das kann schon sein. Zentral war vor allem mein Upright Piano, würde ich sagen. Das hört man in fast allen Tracks. Ich habe während der Wintermonate, als ich das Album geschrieben habe, einfach genommen, was in in meiner Wohnung stand. Aber es stimmt, auf "Molecules" gab es glaube ich nur ein Lied mit Upright-Sound... Nein, gar keins! Warum nicht? Naja, in meiner Wohnung steht ein Upright-Klavier mit drei Dämpfern. Und wenn man die alle einsetzt, klingt das wunderschön, finde ich. Ich wollte ein Album machen, wo dieses Klavier im Mittelpunkt steht: "Halluzinationen".

Sind alle Songs auf diesem Klavier entstanden?

Tatsächlich, ja. Sogar die, bei denen die Klavierparts letztlich gar keine Klavierparts mehr sind.

Das heißt, du hast dort das Gerüst und die Melodien geschrieben und später ausgearbeitet?

Genau. In meiner Wohnung kann ich alles aufnehmen. Dort ist alles verkabelt. Leute, die keine Musik machen, finden das manchmal komisch, wenn sie in meine Wohnung kommen, haha. Es ist halt auch noch in der Küche. Wenn man zum Kühlschrank will, muss man erstmal über die ganzen Kabel rüber. (lacht) Ein bisschen umständlich, aber es funktioniert.

Sonst müsste man immer alles neu aufbauen.

Eben! Für mich funktionierts. Ich mache Pro Tools auf, mache einen Ordner... Der hieß am Anfang einfach "Neue Lieder". So führt eins zum anderen. Das mache ich dann schon seriös. Dann wird mit Tempo aufgenommen. Ich spiele den Bass ein, bastle einen Rhythmus... Alles mit dem Computer, ich habe kein Schlagzeug. Irgendwann kommt der Schlagzeuger, ich zeige ihm, er spielt das und baut es etwas aus.

Ein Beat kam von Larissa Marolt oder? Fanden noch mehr Kollaborationen statt?

Jein. Ich mache manchmal Raclette-Partys bei mir zuhause. Weil ich gemerkt habe, dass Leute die eigentlich keine Musik machen, gerne ein bisschen rumspielen und rumdrehen, habe ich alles angelassen. Auch meine TR-909 Drum-Machine. Da kann man auf Knöpfe drücken, Sachen auf und zu machen ... So entstand der Beat, als sie mal bei mir zuhause war. (lacht) Ja, doch, der war eigentlich ganz gut. Aber auch ein bisschen zufällig.

Du spielst "Liquid Air" im Video dazu, deshalb dachte ich...

Stimmt! Den Song hatte ich da schon, noch als Ballade. Ich wusste aber schon, dass ich einen Beat dazu haben möchte. So einen "Michael-Jackson-Beat". In einem Lied von ihm wird alles auf so Stand-Toms gespielt. Mir fällt gerade der Titel nicht ein.

Nach dem Songwriting ging es natürlich ins Studio. Live-Recording – und zwar gleich das komplette Album am Stück. Warum so und nicht wie üblich Song für Song?

Mein Produzent Dan Carey hatte die Idee. Wir suchen immer nach einer Aufnahme-Idee. Einfach, um wach zu sein und ein bisschen was zu riskieren. Wir dachten uns, das wäre lustig. Es ist auch ätzend, wenn man ein Lied aufnimmt und dann nochmal aufnimmt und so weiter. Um aus diesem Loop rauszukommen, dachten wir, es wäre doch witzig, wenn man immer das ganze Album spielen müsste. Man dürfte gar nicht Lieder einzeln spielen. Das haben wir dann gemacht. Wir haben sechsmal das ganze Album aufgenommen – dreimal am Montag, dreimal am Dienstag.

Stammen die finalen Takes aus unterschiedlichen Sessions oder einer einzigen?

Der Hauptteil stammt aus Aufnahme 4. Der Anfang – "Liquid Air" – ist Aufnahme 1. Der Schluss ist die letzte Aufnahme. Lustig eigentlich.

Welche Rolle spielte Dan Carey? Hatte er Einfluss aufs Songwriting?

Nein, das nicht. Wir haben zusammen ausgewählt. Ich hatte noch mehr Lieder. Wenn er das Gefühl hat, ein Lied passt nicht in eine Linie mit den anderen, ist er immer sehr bestimmt. Das ist für mich viel schwieriger. Für mich kommen die alle aus derselben Serie und denke, das wäre auch Teil davon. Das "Pigeons"-Lied zum Beispiel – er fand, das passt nicht zum Album. Musikalisch stimmt das. Inhaltlich hätte es halt gut gepasst. Aber ich habe ihm dann vertraut. Musikalisch wäre es mega-komisch gewesen.

Deshalb fehlt auch "HangHangHang", nehme ich an? Ein neues Stück, das du bereits auf der "Molecules"-Tour vorgestellt hast.

In dem Fall lag es mehr an mir, weil es nicht Teil der Serie "Halluzinationen" war. Das kommt von einem anderen Zeitpunkt.

Warum habt ihr euch für die Abbey Road Studios als Aufnahmeort entschieden?

Wir dachten uns: Wenn wir es wirklich so machen – alles ganz aufnehmen, alle spielen gleichzeitig, im selben Raum, wenn einer einen Fehler macht, ist es auf dem Album – dann müssen wir ins beste Studio das es gibt. Wo gehen wir also hin? Abbey Road!

Ist es das beste?

In der Welt von Dan Carey schon. Er ist Engländer. Für mich ist es schon auch so im Kopf ... Abbey Road. Für Europäer wahrscheinlich. Die Amerikaner würden vielleicht was anderes sagen – irgendwas in Nashville, wo Elvis war oder so. Aber wir sind ja Europäer.

Mit wem hast du aufgenommen? War die Band identisch mit der deiner letzten Tour?

Nein. Alexi, der Franzose, der Keys und Flügelhorn spielt, war der einzige. Dann Julian Satorius, ein Jazz-Schlagzeuger, der ganz am Anfang bei mir spielte. Er ist sehr speziell. Ben aus London am Bass – er spielt bei einer Londoner Hillbilly-Band. Hinako Omori an den Synthesizern. Sie hat lange mit Kate Tempest gespielt, ist jetzt gerade in der Band von Radiohead-Gitarrist Ed O'Brien. Der hat gerade ein Soloalbum gemacht und sie spielt jetzt bei ihm – oder eben doch nicht, weil wir haben ja Corona ... Hinako ist so gut! Sie hat auch ein bisschen auf "Molecules" Synthesizer gespielt. Ah, und Dino Brandao hat Backings gesungen. Die Backings mache ich normalerweise selbst, aber diesmal ging das ja nicht.

Ach, auch die Vocals wurden live aufgenommen?

Ja, alles! Das ist sehr wichtig! Es gab im Nachhinein keine Möglichkeit, etwas zu verändern.

Oha, dann um so mehr Respekt.

Ja, ich weiß: Es war absolut legendär! (lacht) Es war schon verrückt. Aber dann ist man echt wirklich konzentriert, das kann ich dir sagen, haha.

Würdest du es nochmal so machen wollen?

Ja, jetzt gerade ist es sogar so schlimm, dass ich es eigentlich nur noch so machen will. Es ist so ätzend, wenn man in diesen Mechanismus reinkommt, immer wieder dasselbe aufzunehmen. Irgendwann fängt man an, das Gras wachsen zu hören. Man vergisst das große Ganze. Und das ist falsch. Für mich ist das nicht hilfreich.

Limitiert das nicht beim Songwriting, zu wissen, dass du alles live einspielen musst? Oder war es eher befreiend?

Ja, das war befreiend. Beim Komponieren kann man ja eigentlich Sachen schreiben, die man nicht spielen kann. Indem man zum Beispiel was beschleunigt. Oder ich nehme ein Klavier auf und dann nochmal ein zweites Klavier drüber. Mit meinen zwei Händen kann ich das nicht spielen, aber Alexi zum Beispiel kann das dann. Man kann jemanden holen, der das dann live umsetzen kann. Das ist mein Trick.

Lass uns einen Song im Besonderen ansprechen: "Alpha Venom". Textlich schlägst du hier eine feministische Richtung ein. Wie ist das Stück entstanden?

Das ist eine ganz lustige Geschichte, denn es ist das einzige Lied, das ich nicht im Rahmen der Songwriting-Serie von Januar/Februar/März geschrieben habe. Es entstand nach einer Anfrage der Fernsehserie "Rampensau". Sie fragten, ob ich einen Titeltrack für sie aufnehmen könnte. Das habe ich gemacht und dabei dieses Lied geschrieben und aufgenommen – allerdings ganz anders, in einer Clubversion und in einer Balladenversion. Wie man das eben machen muss für Fernseh- und Filmsachen. Die Serie kam auch schon raus. Als ich im Sommer für die Albumaufnahmen in London war, habe ich Dan das Lied gezeigt. So à la: "Das gäbe es auch noch." Er fand, dass es megagut dazu passen würde. Denn wir hatten ja ein Problem: Meistens nimmt man Lieder auf und überlegt dann am Ende, welches am Anfang steht. Doch wir mussten von Anfang an die Songreihenfolge wissen. "Alpha Venom" passte so gut zwischen zwei der Lieder. Also habe ich eine neue Version davon gemacht.

Laut Pressetext wünschte sich Dan hier explizit ein Gitarrensolo von dir.

Richtig.

Letztlich ist eher ein Anti-Solo dabei herausgekommen.

Ja, ich finde die besten Gitarrensoli gehen genau so. Ein bisschen steht das Gitarrensolo für mich stellvertretend für Toxic Masculinity. Dieser Guns N' Roses Vibe oder? (lacht) Das ist so angeberisch! Jedes Mal frage ich mich, wie man nur so peinlich sein kann, sich mit einem Solo so offensichtlich aufzuplustern. Meine Soli sind immer so: Sie fangen an und hören dabei schon wieder auf. Das finde das wahnsinnig lustig – ich persönlich. (lacht) Auf der Bühne mache ich oft noch solche Soli. Dan hat das gesehen, als ich in London gespielt habe und meinte dann: 'Hey du, wir brauchen ein Lied, wo du so ein Solo spielst!' Okay. Und ich dachte mir: alles klar, das muss in "Alpha Venom".

Hast du den Text eher als Appell an Frauen oder an Männer geschrieben?

Das entstand ja in Zusammenhang mit dieser Serie. Da geht es um eine starke Frauenfigur. Ah, das ist auch so ein dummer Satz, tschuldigung. "Eine starke Frauenfigur" – was soll denn das heißen? Es geht um eine Frauenfigur, die sich durchschlagen muss, vom Leben immer nur verschlossene Türen bekommt, sich aber trotzdem behauptet. Das war der Kontext. Das Wichtige für mich war der Satz: "Don't forget who makes the music / I'm the one who makes the music." Letztendlich liegt das Wesentliche vielleicht nicht bei demjenigen, der die Macht hat. Die marxistische Theorie dazu wäre: die Macht liegt bei demjenigen, der das Produkt macht, der es erfindet und herstellt – nicht bei dem, der es bezahlt. Weißt du, was ich meine?

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1 Kommentar

  • Vor 3 Jahren

    Vielen, vielen Dank für das an vielen Stellen äußerst organisch anmutende Gespräch und für die vielen Einblicke in Sophies Kompositions- und Aufnahmemethoden! Hatte während des Lesens öfters das Gefühl, der Künstlerin wie dem Menschen gleichermaßen ein Stück näher zu kommen. Dass sie auch anders kann, wenn das Format sie stört oder Interviewer*innen mit unvorbereiteten Allerwelts-Fragen langweilen, lässt sich auf YouTube ja nochmal zu Genüge ins Gedächtnis rufen. :)

    Das Album dazu spielte bei mir auch schon vorher ganz oben um den AOTY-Titel mit, aber dieses Interview dazu genommen ergeben sich durchaus noch ein paar Aha!-Momente beim hören.