laut.de-Kritik

Ihr unpersönlichstes Album.

Review von

Bisher ging St. Vincents Blick immer nach vorne. Jedes Album hielt eine neue Perspektive parat. Beim Erstkontakt hinterlässt "All Born Screaming" alleine dadurch Verwunderung, dass Annie Clark erstmals einen deutlichen Schritt zurück nimmt. Plötzlich klingt sie wieder wie vor "Daddy's Home". Ein Ansatz, der für sie dann eben doch wieder unbekanntes Terrain darstellt. Wie wiederholt man den eigenen Sound, ohne dabei langweilig zu klingen?

Ihr siebtes Album wirkt wie eine Kurskorrektur. Weg vom Rock'n'Roll, dem Funk, der Psychedelia und dem Glam-Pop der 1970er, zurück zum spleenigen Artrock. 2021 versteckte sie sich hinter einer blonden Perücke, um über ihre persönlichsten Erfahrungen und die zehnjährige Haftstrafe ihres Vaters aufgrund einer Verwicklung in ein Aktienmanipulationsprogramm zu singen. Nun zeigt sie sich frontal, um ihre Texte vage zu formulieren und so für Interpretationen zu öffnen. Überbieten sich Stars wie Taylor Swift momentan in einem Wettbewerb, wer denn nun den persönlichsten Longplayer macht, geht Clarke den entgegengesetzten Weg. Sie erobert sich selbst zurück, indem sie mit "All Born Screaming" ihr bisher wohl unpersönlichstes Werk veröffentlicht.

Trat sie auf zurückliegenden Alben oft als Co-Produzentin auf, produziert sie diesmal komplett selbst. Den Sitz auf dem Schlagzeug besetzt sie dabei ähnlich oft neu wie Spinal Tap. Mal hämmert Stella Mozgawa (Warpaint) auf das Butzbutzgerät, dann Josh Freese (Slash, Devo, Foo Fighters), Mark Guiliana (Mehliana, David Bowie), oder David Ralicke (Dengue Fever). Selbst einem hoffnungsvollen Nachwuchstalent wie dem noch unbekannten Dave Grohl (Nirvana, Foo Fighters) gibt sie eine Chance. Außerdem schauen Cate Le Bon, Justin Meldal-Johnsen und Rachel Eckrot in ihrem gut besuchten Studio vorbei.

Das Ergebnis klingt wie die logische Weiterverfolgung des Weges, der von "Strange Mercy" über "St. Vincent" zu "Masseduction" führte. Sie selbst bezeichnet es als "schwarz-weiß und alle Farben des Feuers". Gerade in der ersten Hälfte lässt sie ihre Tracks bluten und häutet sie bis auf die klappernden Knochen. Neugierig streift sie von einer fesselnden Idee zur nächsten. Zu Mojo sagte sie im Februar: "Ich musste tiefer gehen, um mein eigenes Klangvokabular zu finden."

Das geordnete Chaos, in dem St. Vincent Leben, Tod und Hoffnung an sich vorbei ziehen lässt, zerspringt in zwei Hälften. Die ersten fünf Stücke füllt Dunkelheit, bevor sie langsam einen Weg aus dem Tal und dem Schmerz findet und im Finale wirkt, als würde sie ihre Augen zum ersten Mal öffnen. Mit "Hell Is Near" beginnt der Longplayer ausgerechnet an seinem langsamsten Ort. Martialische Trommeln unterlegen ihre Stimme, bevor der Rest des Arrangements zu einem "Begin again" einsteigt. Ein gespenstischer Song, der wie eine Brücke zwischen "Daddy's Home" und "All Born Screaming" wirkt.

"Reckless" geht mit klaren Nine Inch Nails-Anleihen zuerst noch einen Schritt zurück, nimmt Anlauf, um sich dann innerhalb von vier Minuten von geflüsterter Zerbrechlichkeit zu einem kontrollierten Tumult auszubauen. Im beklemmenden "Broken Man" liefern sich St. Vincents Gitarre und Grohls harte Drums einen derben Schlagabtausch und unterbrechen den Track immer wieder mit kurzen Ausbrüchen. Ein Song, der mit aller Kraft gegen seine eigenen Mauern schlägt und versucht, diese zu überwinden. Es prügelt, es ruckelt, es schäumt. Das unruhige "Flea" überrascht im Kern mit einem kurzen Prog Rock-Ausflug. "When you're walking down your sunny street / Thinking of your bills or what to eat / Then you feel that little prick from me / I look at you and all I see is meat
Spätestens mit "Violent Times" beginnt sich das Soundklima langsam zu ändern. Der sich auf düstere Weltlage beziehende Text fällt dafür um so düsterer aus: "Dollar signs almost lost it chasing dollar signs / Knew the cost but I forgot the price of buying my life." Ein erhabener Song mit satten Bläsern, der einen Blick auf die Liebe in Kriegszeiten wirft und mit seiner morbiden Romantik die wohl beste Textzeile des Albums aufweißt: "All of the wasted nights fighting mortality / When in the ashes of Pompeii lovers discovered in an embrace for all eternity."

"Sweetest Fruit" beginnt als Hommage an die 2021 verstorbene SOPHIE. Ein Stück, in dem Pop und Kunst sich gleichberechtigt im Arm liegen. Zwischen dem Beginn "Hell Is Near" und "So Many Planets" könnten kaum mehr Himmelskörper liegen. St. Vincent versucht sich an einer eigenen Interpretation von Reggae, in dem sie noch ein schelmisches Gitarrensolo versteckt. "I have to visit so many planets before I find my own", singt sie, während sie es im Grunde bei allen Vorgaben des Genres vergeigt und das Stück genau auf diesem Weg funktionieren lässt.

Zum Finale breitet sich der Titeltrack über sieben Minuten aus. Eine gemeinsame Reise mit Cate Le Bon, die beschwingt startet, in dessen Mitte jedoch ein harter Break zum pumpernden Outro mit einem "All Born Screaming" Mantra führt. St. Vincent bringt uns zeitgleich zurück zum Beginn des Albums, wie zu unser aller Beginn. Denn in unseren ersten Atemzügen gleichen wir uns alle. Egal ob weinend, oder aus Protest, wir werden alle schreiend geboren.

Trackliste

  1. 1. Hell Is Near
  2. 2. Reckless
  3. 3. Broken Man
  4. 4. Flea
  5. 5. Big Time Nothing
  6. 6. Violent Times
  7. 7. The Power's Out
  8. 8. Sweetest Fruit
  9. 9. So Many Planets
  10. 10. All Born Screaming

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