laut.de-Kritik

Revolution mit Suff und Charakter.

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"Das wird wohl immer so bleiben, wenn Frauenbands auf der Bühne stehen, die Männerwelt denkt, man müsste ihnen mit aller Kraft behilflich sein. Sei es den Verstärker richtig einstellen oder das Mikro anzuschalten ... Wir hatten eine Frau mal als Soundtechnikerin für unsere Konzerte. Die ganzen Typen in den Clubs sind sofort angekommen, also die Techniker der Clubs und haben ihr alles erklärt. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie ihr erklären, wie man einen Stecker in die Steckdose tut. Das ist unfassbar, aber das ist einfach so. Sie denken eine Frau, die Tontechnikerin ist ... uiuiuiui Ich meine, ok, ich kann mein Fahrrad auch nicht reparieren, aber das will ich auch gar nicht reparieren können (lacht)." (Françoise Cactus im Interview mit laut.de).

Wenn ich groß bin, dann möchte ich wie Françoise Cactus sein. So denken viele Mädchen in Deutschland, ach was, weltweit. Es gibt nicht viele Frauen, die den Punk so wunderbar charmant und lässig verkörpern. Bereits in den 1980ern zieht es Françoise Cactus raus aus der französischen Provinz, und irgendwann landet sie in West-Berlin. Brezel Göring begegnet sie in Kreuzberg, und schon bald zieht man nicht nur zusammen, sondern steht auch gemeinsam auf der Bühne.

Das sind Stereo Total. Eine französisch-deutsche Freundschaft, die rebelliert und vorzugsweise deutsche Texte mit französischem Akzent aufs Papier bringt. Da werden alle Facetten der Popmusik zusammengetrommelt, aber es bleibt immer irgendwie im Underground-Bereich. Stereo Total sagen, sie machen "Underground-Pop". Bon!

Nach "Oh Ah" und "Monokini" heißt es 1998 "Juke-Box Alarm". Da rappelt und knistert es ordentlich in der Beat-Pop-Kiste - die Ideen gehen diesem Duo offenbar niemals aus.

Gleich zu Beginn rumpelt es auch schon los Richtung "Holiday Inn". Hoppala. Da ist man zunächst etwas baff, weil sie hier in englischer Sprache dichtet: "Let's go to a Holiday Inn, to a Holiday Inn and I'll show you somethin." Aber der typisch-französische Akzent von Françoise funktioniert in allen Sprachen. Neben dem technisch-wertvollen Soundbrett von Brezel Göring bleibt ihre nie akzentfreie Stimme die Erdbeere auf der Sahnetorte.

Benannt hat sich Françoise übrigens nach dem wunderbaren Song "Les Cactus" von Jacques Dutronc. Der französische Chansonier bettet sehr viel Ironie in seine Lieder ein. Das hat sich Madame Cactus wohl auch von dem Schauspieler aus Paris abgeguckt so wie die Liebe zum Chanson.

Mal ist es wild, mal nonchalant. Mit unzähligen Hits und punkigen Synthie-Elektro-Schockern begeistern Stereo Total ihre treuen Anhänger. Kokett, lustige und reflektierende Texte, ein bisschen irre, aber vor allem schön verrückt und direktemang in die Visage. Aber nie respektlos, sondern immer liebevoll und prickelnd im Ohr. "Die Brüste sind Pampelmusen, die Beine sind lange Drähte, mein Mund ist eine Seerose und ich kann sprechen, Geräusche machen." ("Comicstripteasegirl").

"Touche-Moi" (dt. Berühre mich) verführt in französischer Sprache und ist dieses traurig-schöne Chanson über die Liebe. Emotionen und Gefühle schwappen förmlich über und man fühlt sich sofort in einer Retro-Romanze der 1960er Jahre versetzt: "Avant tu m'touchais, tu m'touches plus" (Du hast mich früher berührt, du berührst mich nicht mehr...). Die vergängliche Liebe: "Avant tu m'aimais, tu m'aimes plus" (Du hast mich mal geliebt, du liebst mich nicht mehr).

Bei Stereo Total bekommt man immer den passenden Song zur Situation oder Person, aber vor allem zur emotionalen Verfassung. Manchmal findet man auch Charakterzüge von einem selbst oder gewisse Wunschvorstellungen oder übertriebene Leidenschaften. "Supercool": "Ich wurde als Tier geboren. Aber ich kann mich nicht erinnern. Ich bin anders geworden." Voilá!

Hits, Hits, Hits. Melodien, die man nicht mehr aus dem Ohr bekommt. Einfache Rock'n'Roll- Rhythmen und zackige Schläge auf die Snare. Das Arrangement bündelt meistens Brezel. Minimalistisch, aber groß in der Wirkung. Dazu braucht es oft auch gar nicht so viel Text, da reicht ein "Oh Yeah". Es muss nicht immer alles perfekt sein. Kleine Fehler im System. Dilettantismus zum Liebhaben. Für immer Punk. Fucking Independent, yeah. Revolution mit Suff und Charakter. Alles ausprobieren. Alle Instrumente spielen, die man nicht gelernt und möglichst günstig auf dem Flohmarkt ersteigert hat.

Alles muss raus, alle Eindrücke, Gespräche, Erlebnisse aus diesem verrückten Berlin und Umgebung. In Japan und Kasachstan war man aber auch schon unterwegs. Dabei sind Stereo Total niemals zu laut, abgehoben oder unangenehm aufdringlich. Amüsante Wortkreationen und tanzbare Beats sind charakteristisch für diese Band und funktionieren in allen Sprachen. Schließlich wollte man von Anfang an durch die Welt tingeln.

Party-Action mit "Party Anticonformiste" und "Nouvelle Vague". Stets mit charmantem Umgang und trés chique. Fetzige Rhythmen und ein lang anhaltendes Sound-Pop-Gebilde, das immer zum Tanzen, Schmunzeln und Liebkosen anregt. Eine aufregende Welt dieses Deutschland. Da wirkt die Sängerin oft wie ein neugieriges Kind, vielleicht auch ein bisschen naiv, mit einem Partner an der Seite, der sie musikalisch unterstützt, aber niemals bevormundet.

Die Huldigung an das große Kino ("Film d'Horreur") verpacken sie in einen kleinen Low Budget-Soundtrack. Und mit dem "Schlüssel" beginnt die nächste Tanz-Hymne mit einer verspielten Fliwatüüt-Sound-Kulisse.(Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt ist ein WDR-Fernsehfilm in vier Teilen von 1972) https://www.youtube.com/watch?v=Fqg-U1iTuF4

Stereo Total verantworten auch zahlreiche Coverversionen. Auf Juke-Box Alarm" gibt es "Heaven's In The Back Seat Of My Cadillac" von Hot Chocolate zu hören. Aus der Funky 1970s Nummer wird eine eigenwillige Sound-Retro-Monotonie, die den Tinnitus lang anhaltend übertönt. Herrlich!

Stereo Total ist eine Lieblingsband, oder aber man kann mit diesem Trash so rein gar nichts anfangen. "Bon, mir egal", würde Françoise sicherlich dazu sagen. Vielleicht wiederholen sich hier und da mal ein paar Melodien, aber wichtig ist die Message und die Begeisterung für die Musik und das Gesamtkunstwerk. Für viele bleiben Stereo Total eine feste Institution, die in Berlin ihre Wurzeln hat. Bon Voyage und Merci beaucoup!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Holiday Inn
  2. 2. Comicstripteasegirl
  3. 3. Sweet Charlotte
  4. 4. Touche-Moi
  5. 5. Crazy Horse
  6. 6. Supercool
  7. 7. Les Minets
  8. 8. Oh Yeah
  9. 9. Film D'Horreur
  10. 10. Vertigo
  11. 11. Heaven's In The Back Seat Of My Cadillac
  12. 12. Der Schlüssel
  13. 13. Nouvelle Vague
  14. 14. Party Anticonformiste
  15. 15. Holiday Out

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LAUT.DE-PORTRÄT Stereo Total

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2 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    Ist zwar nur Mutmaßung, da ich mir durchaus vorstellen kann, dass Fr. Lütz die "Juke-Box Alarm" persönlich favorisiert, aber auch der Text dazu legt ja nahe, dass im Falle Stereo Total u.v.a. in Anbetracht der jüngsten Umstände des tragischen Todes von Fr. Cactus das gewählte Album nur Alibi für den Gesamtwerk-Meilenstein sein kann. Das finde ich gut und äußerst angemessen!

    Für mich bedeuteten Stereo Total während ihrer Existenz auch eher spontane Playlist-Picks, die aber in der jeweiligen Situation genauso individuell unverzichtbar auf mich wirkten wie der gesamte Seitenstrang für den Erzählsammelband "Punk" so ganz allgemein, den sie mit ihrer Bandhistorie und Diskographie von Kreuzberg aus entwarfen.

    • Vor 3 Jahren

      "Das finde ich gut und äußerst angemessen!"

      Eigene Regeln jedesmal aufstellend für nen Stein? Nö, genau das Gegenteil, wie wäre es mal sich an Regeln halten? Mag dem Genre Punk aus deutschen Landen nicht entsprechen, dass mir so und so egal.

      Musik ganz allgemein gesagt, aus deutschen Landen, ist eh drittklassig und hält international kaum einen Vergleich stand.

      Von der Truppe hier oben noch nie was gehört und das liegt daran das jeder Referenzbezug fehlt und nicht herzustellen ist. Mag sein das ich zu Mainstreamig unterwegs bin, trotzdem bleibts bei mir:

      "Stereo Total ist eine Lieblingsband, oder aber man kann mit diesem Trash so rein gar nichts anfangen."

      Willkür ist also die angesagteste Regel, na super!?

    • Vor 3 Jahren

      Ach, Käpt'n... da halt ich's doch lieber weiter mit... oh je, hab kurzzeitig vergessen, wer von beiden das in nem Interview mal sinngemäß gesagt hat, Schorsch Kamerun oder Blixa Bargeld, aber:

      Strukturen sind schon sinnvoll, Regeln aber zumeist überbewertet und zu vernachlässigen. :)

    • Vor 3 Jahren

      "Murray Gell-Mann schrieb dazu: „Mitunter gelingt einer Theorie eine bemerkenswerte Synthese, indem sie die Regelmäßigkeiten eines breiten Spektrums von Phänomenen, die zuvor getrennt … beschrieben wurden, in einer gerafften und eleganten Darstellung komprimiert.“"

      Wo wir schon beim zitieren sind, hier mal was aus Naturgesetze universall anwendbares. Man ersetze "einer Theorie" mit "einem Song" u. "breitem Spektrums von Phänomenen" durch "eine Menge Noten". "Darstellung" steht dir frei ob "Wohnzimmerkonzert" oder "Compact Disk" es ersetzt!

      Irgendwas zu Mathe und Musik hab ich auch noch auf dem Schirm. Aktuell tief vergraben, keine Lust zu buddeln. Scheint mir jedenfalls deutlich logischer zu sein, wer würde schon Blixa bzw. dem Schorsch wiedersprechen wollen? ;)