laut.de-Kritik

Der Songwriter covert Lieder seines verstorbenen Sohnes.

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Das Schlimmste, was einem im Leben passieren kann, ist, das eigene Kind zu Grabe zu tragen. Einen Weg zu finden, mit solch einem immensen Verlust klar zu kommen, ist schwierig. Einer, der sich damit auskennt, ist Joe Biden. 1972 starben seine Frau und seine Tochter bei einem Verkehrsunfall, 2015 sein Sohn an Krebs. Man muss durchhalten, so seine Erfahrung. Der Tag wird kommen, an dem die Erinnerung an die verstorbenen Lieben ein Lächeln hervorbringt, bevor die Tränen fließen. Bis dahin heißt es, im Schoße der Familie Trost zu finden und arbeiten, arbeiten, arbeiten.

Letzteres hat sich Steve Earle vorgenommen. Am 20. August 2020 starb sein ältester Sohn Justin Townes an einer Überdosis. Kokain gemischt mit dem synthetischen Opiat Fentanyl, wie die Familie später bekannt gab. Zwischen Tod und Veröffentlichung dieses Albums sind gerade mal viereinhalb Monate vergangen.

Offenbar konnte es nicht schnell genug gehen. Das Album ist an jenem Tag erschienen, an dem J.T. 39 geworden wäre, dem 4. Januar 2021. Zunächst in nur digitaler Form, CD und Vinyl sind für März angekündigt.

"Ob gut oder schlecht, richtig oder falsch, ich liebte Justin Townes Earle mehr als alles andere auf der Welt. Davon abgesehen habe ich diese Platte aus demselben Grund gemacht wie jede andere. Für mich selbst. Es war der einzige Weg, den ich kannte, um mich zu verabschieden", schreibt Earle in den Liner Notes.

Um seinem Sohn die Ehre zu erweisen, trommelte Earle seine Begleitband The Dukes zusammen und nahm mit ihr Songs aus J.T.s Repertoire auf. Nicht nur das verdient den höchsten Respekt. Auch, dass die Tränen nicht hörbar fließen und dass die Musiker tatsächlich versuchen, ein Lächeln zu zaubern.

So bietet der Opener "I Don't Care" mit Fiddle und Banjo fröhlichen Bluegrass - auch wenn der Text in einem Moment der Niedergeschlagenheit entstanden sein muss. "Stehe mitten in der Nacht an einer Straßenecke und bettle um Kleingeld. Versuche, ein Ticket für eine einfache Fahrt aus diesen dreckigen Straßen zu buchen. Und ich weiß nicht mehr, wohin ich gehe. Ich weiß es nicht, und es ist mir egal", lautet die erste Strophe. Schunkelig geht es auch in "Ain't Glad I'm Leaving" zu, "Maria" bietet gediegenen Country-Rock. "They Killed Joe Henry", eine Variation der fast gleichnamigen traditionellen Ballade, ist ein weiteres fröhliches Stück, wie auch "Harlem River Blues". Dazwischen finden sich nachdenklichere Momente wie die schönen Balladen "Turn Out My Lights" und "Lone Pine Hill"

"Justin Townes Earle verließ diese Welt etwas mehr als eine Meile von jenem Ort entfernt, an dem er sie betrat. In seinen 38 Jahren hat er mehr gesehen als die meisten Menschen, bevor ihn sein allzu kurzer Lebensweg genau dorthin zurückbrachte, wo er begann: Nashville, Tennessee". Earle erinnert sich an die ersten besonderen Momente nach der Geburt, aber auch an die schweren Zeiten nach der Trennung von J.T.s Mutter. Durch Nirvanas "MTV Unplugged" fand J.T. zur Musik, stolz konnte ihm Steve berichten, dass er Lead Bellys dort gecovertes "Where Did You Sleep Last Night" längst selbst eingespielt hatte.

Auch J.T. verdiente sein Geld als Musiker. Zunächst in der Band seines Vaters, bis er wegen seiner Drogenexzesse rausflog. Schon mit 12 habe er damit angefangen, erzählte J.T. einmal, nach vielen Entziehungskuren und Rückfällen galt er aber in seinen letzten Jahren als clean. Unter eigenem Namen veröffentlichte er acht Alben und heimste auch mehrere Preise ein.

Die Wege von Vater und Sohn kreuzten sich im neuen Jahrtausend selten, bis fast zum Schluss. "Ironischerweise saßen wir beide den letzten Sommer seines Lebens in Tennessee aus, geerdet durch Pandemie, unfähig, an den einzigen Ort zu fliehen, an dem wir uns jemals zu Hause fühlten. Den Highway", so Earle.

"Wir sprachen oft in den letzten Monaten, sahen uns eine Handvoll Mal und ich sprach mit ihm in der Nacht, in der er starb. Dafür bin ich dankbar." Earles Liner Notes wirken erstaunlich gefasst, seine Fassade lässt er schließlich aber doch fallen.

Im letzten Stück, "Last Words", alleine an der Gitarre, nur begleitet von einer Geige, wünscht sich Steve, seinen Sohn in seinen letzten Momenten in den Armen gehalten zu haben, so wie er es bei der Geburt getan hatte. Die letzte Strophe lautet: "Jetzt weiß ich nicht, was ich tun werde / Bis zu dem Tag, an dem ich dir folge / Durch die Dunkelheit zum Licht / Denn ich liebte dich dein ganzes Leben lang / Das Letzte, was ich sagte, war: 'Ich liebe dich' / Deine letzten Worte an mich waren 'Ich liebe dich auch'".

Die Einnahmen des Albums sind für J.T.s dreijährige Tochter bestimmt, ein weiteres Zeichen von Liebe. Möge es Earle und seiner Familie eines Tages vergönnt sein, das Lächeln vor den Tränen zu erleben.

Trackliste

  1. 1. I Don't Care
  2. 2. Ain't Glad I'm Leaving
  3. 3. Maria
  4. 4. Far Away In Another Town
  5. 5. They Killed John Henry
  6. 6. Turn Out My Lights
  7. 7. Lone Pine Hill
  8. 8. Champagne Corolla
  9. 9. The Saint Of Lost Causes
  10. 10. Harlem River Blues
  11. 11. Last Words

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