laut.de-Kritik

Eine radikale Zäsur für die Popgruppe mit musikgeschichtlichen Folgen.

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Es dauert zweieinhalb Minuten, bevor der Song überhaupt ansatzweise beginnt. Bis dahin vernimmt man das Prickeln sublimer Streicher, den Hauch einer Trompete und wie von Ferne ein zwei lose eingestreute Pianotöne. Danach verstummen die Geräusche völlig, schier endlose Sekunden vergehen, die Atmosphäre lädt sich auf, bis das Feedback einer elektrischen Gitarre die Ruhe mit enormer Wucht zerschneidet und "The Rainbow" mit der Ruhe eines buddhistischen Tempelmönchs allmählich in Gang kommt.

Es wäre eine historische Bereicherung für Portale wie YouTube, fände man dort einen Mitschnitt jener berüchtigten Listening Session, in der das Talk Talk-Label EMI im Sommer 1988 erstmals "Spirit Of Eden" zu hören bekam. Gesichtsentgleisungen, leeres Entsetzen, dumpfe Fassungslosigkeit, polternde Flüche oder Hasstiraden; wir werden wohl nie erfahren, wie die Labelbosse in Erwartung neuer, ausgebuffter Pop-Preziosen auf die in Ton gegossene Verweigerung dieses Albums reagierten.

Ausgestattet mit grenzenlosem Budget, das der Konzern seinen Klienten nach den Hitsingles "Living In Another World" und "Life's What You Make It" vom Vorgänger "The Colour Of Spring" mit Siegeslächeln genehmigte, zogen sich Talk Talk für die Aufnahmen zu "Spirit Of Eden" in eine Kirche zurück. 14 Monate und mehrere verschobene Abgabe-Deadlines später präsentierten sie eine musikalische Zäsur, die in den EMI-Fluren bald als kommerzieller Selbstmord betitelt wurde. Das verlorene Geld holte man sich 1990 teilweise mit der Veröffentlichung des Remixalbums "History Revisited" wieder, das gegen den Willen der Band veröffentlicht wurde und einen erbitterten Rechtsstreit hervorrief.

Dabei klangen die Worte des damaligen EMI-Marketingverantwortlichen Tony Wadsworth 1988 zunächst relativ verständnisvoll: "Diese Band benötigt sehr gefühlvolles Marketing. Dennoch schätze ich, dass es eine sehr schwere Kampagne wird. Wir müssen einfach hartnäckig rausgehen und den Leuten sagen, dass dies ein Album für das Jahr 1988 ist. So wird die Verkaufsstrategie aussehen." Die Strategie schlug grandios fehl. Wadsworth' Meinung interessierte bald niemanden mehr, stattdessen nötigte man der Gruppe nach altem Strickmuster eine Singleveröffentlichung ab, obwohl es auf der Platte gar keine gab.

Die Wahl fiel auf das rudimentär melodiöse "I Believe In You" und der Zorn bei Songwriter Mark Hollis wuchs in unermessliche Höhen, als er erfuhr, dass für das "Radio Edit" kurzerhand der Anfang und das Ende des sechsminütigen Songs gekappt wurde. Auch das dazugehörige Tim Pope-Video, das den Sänger widerwillig auf einem Stuhl sitzend und in die Kamera mimend zeigte, änderte nichts am Kommerzdesaster. Die Leute kauften stattdessen A-ha, Pet Shop Boys oder The Cure.

Rückblickend war der Clash der Kulturen jedoch schon am Horizont erkennbar: Das Label wollte den Sound von Fairlight-Sequencern, Simmons-Drumpads sowie Saxophon-Soli aus der Dose, Mark Hollis aber verriet schon 1986 in seinen wenigen Interviews, dass er Synthesizer verabscheue. EMI sah in der Band ab 1986 eine kommende Stadionband dank leicht gehobenem, aber gut verdaulichem Edel-Pop im Drei-Minuten-Format, Hollis dagegen suchte nach der urtümlichen Ehrlichkeit, die er in frühen Aufnahmen von John Lee Hooker und Robert Johnson vorfand. Nach sechs Jahren im Rampenlicht wollte Hollis vor allem eines: Ruhe. Für sich und zum Leidwesen von EMI auch für seine Musik.

So entstand ein Album, das nicht nur die Band Talk Talk veränderte, sondern auch ein kleines bisschen die Musikgeschichte. In jener Weise, in der sich Hollis auf "Spirit Of Eden" der ungezügelten und selbst hinterfragenden künstlerischen Improvisation nach dem Can'schen Vorbild "Tago Mago" verpflichtete, so verwiesen nachfolgende Gruppen wie Radiohead, Sigur Ros, Tortoise oder auch The Notwist auf die richtungsweisenden Impulse, die von dieser Platte ausgehen.

"Spirit Of Eden" ist von der ersten Sekunde an stimmungsvolle Dynamik, ein ruhiger, stetiger Fluss, scheinbar nur für die Tracklist in sechs Titel separiert. Hollis hat recht, wenn er diese Musik als nicht zeitgemäß bezeichnete, sie hätte genau so gut 1975 erscheinen können, sogar 2012. Dies dürfte das größte Kompliment sein, das man einem Album oder einem Künstler machen kann.

Erst nach "Spirit Of Eden" bemerkte man: Diese besondere Stimme des Sängers Hollis kommt besonders dann zum Tragen, wenn sie nicht laut sein muss. Wie der Brite auf dieser sparsam und geradezu manisch sorgfältig arrangierten Soundscape-Reise mit seiner brüchigen Stimme als weiteres Instrument mit den echten interagiert, ist der Free Jazz-Ethik eines Miles Davis näher als einem Rockalbum. Den Songs liegt ein hypnotischer Puls zugrunde, der Raum für Dissonanzen jeglicher Art lässt und die visuelle Kraft von Komponisten wie Claude Debussy oder Erik Satie atmet.

Die Texte sind abstrakt und touchieren Moralverlust, Tod und Drogensucht. Zu diesem Zeitpunkt waren Talk Talk mehr als die Kernmitglieder Hollis, Bassist Paul Webb, Drummer Lee Harris und Produzent Tim Friese-Greene. "Spirit Of Eden" wurde unter Zuhilfenahme von 17 auswärtigen Musikern aufgenommen, darunter der damals noch weitgehend unbekannte Geiger Nigel Kennedy. Es hält sich die Legende, dass man Kennedys Hände mit Gafferband fixieren musste, um dessen Anflüge von Virtuosität zu bändigen.

Hollis und Friese-Greene, die auf "The Colour Of Spring" erstmals ihr gemeinsames Interesse an großflächigen Improvisationen entdeckten, bannten mit "Spirit Of Eden" eine kompositorische Spontaneität auf Tonspuren, die der tadellose Nachfolger "Laughing Stock" 1991 nur noch in Nuancen weiterführen konnte.

Wie sich aus der Weite und Schwerelosigkeit sämtlicher Songs immer wieder Hollis-typische Melodien herausschälen, ist bis heute eine wunderbar rätselhafte Sinneserfahrung. Filigrane Percussions und skizzenhafte Soundbilder ergeben eine Art Minimal Music im Sinne Stockhausens. Nie wurde deutlicher als in Songs wie dem introvertierten "Inheritance" oder dem bedrückenden Orgel-Finale "Wealth", wie ernst Hollis' gehässiger Appell an die seiner Ansicht nach untalentierten Charts-Zeitgenossen des Jahres 1988 gemeint war: "Bevor du zwei Noten spielst, lerne zunächst eine zu spielen. Und auch nur dann, wenn du einen triftigen Grund dafür hast."

"Spirit Of Eden" verkaufte sich 1988 in England nur noch 60.000 Mal, was einen enttäuschenden Top 30-Charteinstieg nach sich zog. Nur noch ein einziges Mal trat der Eremit Hollis sieben Jahre nach dem Ende von Talk Talk in die Öffentlichkeit: Für sein selbstbetiteltes Soloalbum von 1998, in gewisser Weise das definitive Schlusskapitel eines Anti-Popalbum-Triptychons.

Seither mögen sich die Anhänger seiner Kunst im Jahrestakt mehren, der Mann von immer mehr anerkannten Stars für seinen Mut und seine genialen Momente gelobt werden. Doch Hollis bevorzugt die familiäre Abgeschiedenheit mit der Vehemenz, mit der er Ende der 80er Jahre sein verständnisloses Label attackierte. Zuletzt trat der Mann 2001 fernab der Öffentlichkeit auf dem Album "Smiling & Waving" von Anja Garbarek in Erscheinung, der Tochter des norwegischen Jazz-Saxofonisten Jan Garbarek. Such A Shame.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. The Rainbow
  2. 2. Eden
  3. 3. Desire
  4. 4. Inheritance
  5. 5. I Believe In You
  6. 6. Wealth

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32 Kommentare

  • Vor 11 Jahren

    Ein absolutes Meisterwerk. Oft werden sie vergessen oder als 80er-Synthie-Pop verschmäht, aber Talk Talk waren schon kleine Halbgötter. Eine schöne Wahl, liebe Redaktion!

  • Vor 11 Jahren

    absolut wunderschönes album, zu jeder jahreszeit. die drei ersten tracks stampfen selbst heute noch vieles in grund und boden, was sich post-rock schimpft. mark hollis solo album ist übrigens auch sehr zu empfehlen. und .o.rangs erstes album, "herd of instinct". klingt nach einer etwas böseren version von talk talk, angereichert mit vielen tribal und world music einflüssen.

  • Vor 11 Jahren

    hat seinen platz hier mehr als verdient, ebenso wie laughing stock. beides hammeralben.