laut.de-Kritik
Minimalistisch? Ja! Gleichwohl im Kern voller Funk und Afrobeat.
Review von Ulf Kubanke"Ich hasse unhöfliche Menschen!" Der Mann auf der Bühne scheint dem Wahnsinn verfallen. Dunkle Strähnen fallen ihm über den Brillenrand ins Gesicht. Weit aufgerissene Augen starren fiebrig umher. "Angespannt und nervös. Kann nicht runterkommen / Kann nicht schlafen in diesem brennenden Bett." Daneben ein ebenso neurotischer wie hypnotischer Bass. "Psycho Killer? / Was ist das? ... Was unternehme ich wohl noch heute Nacht?"
Nicht nur wegen dieses unsterblichen Portraits eines Serienkillers: Die Talking Heads sind sicherlich die außergewöhnlichste Band aus der Ursuppe des legendären Punkschuppens CBGB's. Zwischen Suicide, Johnny Thunders, Blondie - oder gar als Vorband der Ramones auf ihrem ersten Gig überhaupt - blieben sie stets ein Fremdkörper ganz eigener Art. Inmitten eines Haufens kajalgeschwärzter Denim- & Leder-Fetishisten wirkten die betont ungestylten Talking Nerds mit ihren nahezu hysterischen Bühnenshows wie Außerirdische.
Trotz erfolgreicher Solokarriere von Sänger David Byrne und über zwanzig Jahre seit der offiziellen Bandauflösung: Die musikalischen Errungenschaften der sprechenden Köpfe entziehen sich noch immer jedem Versuch einer Kategorisierung durch den Zeitgeist. Bei ihnen stellt sich nicht die Frage: Modern oder altbacken? Ihre schwarz und weiß verbindenden Songs bleiben dank wahnsinniger Inspiration, handwerklichen Könnens und schottischer Schrulligkeit des Frontmanns auch aus heutiger Sicht ebenso definierend wie einflussreich.
Schon für sich allein genommen ist die Band ein Monolith im Postpunk-Universum. Frühe Glanztaten und ihre prägenden Songs der 80er machen es nahezu unmöglich, diese sich konstant von Platte zu Platte verändernde Musik an einem einzelnen Album fest zu machen. Doch die Talking Heads machen es dem Autor leicht: "Stop Making Sense" ist nicht nur ihr Final Gig des Jahres 1983, das letzte gemeiname Konzert. Der herausragende Auftritt markiert auch den erwünschten Ritt durch eine nicht geringe Anzahl von Highlights, filmisch festgehalten von Jonathan Demme ("Das Schweigen Der Lämmer").
Neben der empfehlenswerten DVD erschien der komplette Auftritt 1984 auch als von Byrne stark nachbearbeiteter CD-Mix, der Basspuren und Beats extrem betont. Der exzentrische Sänger wollte damals parallel ein Hörerlebnis schaffen, das auch unabhängig vom Film funktioniert. So kann sich jeder aus dem Sammelsurium die bevorzugte Variante heraus picken.
Dem Ursprung nach sind die Talking Heads (ein Spitzname für Nachrichtensprecher, da man diese stets nur vom Halse aufwärts sieht) ein eher familiäres Kollektiv. Tina Weymouth (Bass) und Chris Frantz (Drums) waren Mitte der 70er ein Paar. Beide studierten mit David Byrne Design in Rhode Island. Jerry Harrison (Gitarre, Keyboards) stieß kurz vor dem Debüt hinzu.
Gemeinsam sind sie ihrer zwischen destruktiver Punkfratze und aufgeblasenem Bombast gefangenen Epoche weit voraus. Sie schnappen sich eingängige Rhythmusfiguren und brechen ihnen so oft die Knochen, bis sich eine unruhige bis hektische Atmosphäre heraus bildet. Die trockene Schmucklosigkeit in Klangbild und den jeweils angeschlagenen Riffs verleiht einen eigentümlich wavenden Kontrast. Minimalistisch, ja! Gleichwohl im Kern voller Funk und Afrobeat. Ihre Vorbilder sind unter anderem Parliament/Funkadelic und vor allem für Byrne der nigerianische Hexenmeister Fela Kuti.
Der eigentümliche Gesang des Briten soll popkulturell trotz aller Vorzüge das absolute Markenzeichen der leicht schrägen Combo werden. Immer ein wenig wie ein Mann, der mit zerfetztem Nervenkostüm inmitten einer Panikattacke um sein Leben singt. Ein Füllhorn voll skurriler Texte. Zeilen, die in Alltagsschilderungen und Psychogrammen fein säuberlich das Trugbild des (nicht nur) amerikanischen Mittelklasse-Way of Lifes sezieren.
Der Klassiker "Once In A Lifetime" ("Remain In Light", 1980) bringt es auf den Punkt. Bandfreund und Talking Heads-Muse Brian Eno weist Byrne und Co gern in das polyrhythmische Universum Fela Kutis ein. Zusammen mit der psychotischen Amok-Intonation Byrnes ergibt sich eine Art akustischer Schieflage, die den Hörer das Lied nicht lediglich als hysterisch, sondern zusätzlich als vollkommen aus den Fugen geraten wahrnehmen lässt: "And you may tell yourself, this is not my beautiful house / You may tell yourself, this is not my beautiful wife / Letting the days go by, let the water hold me down".
"Genius Of Love" ursprünglich ein Lied des TH-Nebenprojekts Tom Tom Club (Frantz und Weymouth)startet von hier aus seinen Siegeszug als möglicherweise einflussreichster Song einer rein weißen Band auf die Blackmusic-Szene. Von Public Enemy über Ice Cube, 50 Cent bis hin zur ehemaligen Soul-Diva Mariah Carey wurde der Song massenhaft verwendet. Daneben Evergreens wie die ewige Visitenkarte "Burning Down The House" oder das fließende "This Must Be The Place" (beide von "Speaking In Tongues", 1983). Eine großartige Version dieses Liedes bringt der elegant ergraute Byrne 2011 im gleichnamigen Sean Penn-Film zu Gehör.
Wie so oft in der Familie fühlt sich Freigeist Byrne bald vom Bandkorsett unzumutbar eingeschränkt. Seine künstlerischen Pläne sind vielfältig. Konsequent tritt er nach diesem Dezember 1983 nie mehr gemeinsam mit den alten Freunden auf (Ausnahme: drei Tracks anlässlich ihrer Einführung in die Rock'n'Roll Hall of Fame, 2002). Trotz kommerziell erfolgreicher LPs wie "Little Creatures" und Hits wie "Road To Nowhere" oder "And She Was": Reunion ausgeschlossen! "Musikalisch sind wir einfach meilenweit auseinander. Das ist ein Grund." Da hat er leider recht.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
15 Kommentare
endlich mal wieder Musik XD
Kannte ich nicht (ok, in der Musikrichtung kenn ich auch fast gar nichts), hört sich aber ziemlich gut an, hör ich auf jeden Fall an.
Was mir aufgefallen ist, dass es irgendwie noch gar keine Reviews in Folk-Richtung gibt. Gibt es ja Mit Bob Dylan, Van Morrison, Elliott Smith, Joan Baez usw. genug Leute...
Will aber nochmal erwähnen, dass ich diese Meilensteinrubrik richtig genial finde
psycho killer: http://www.youtube.com/watch?v=dJ6fjGS1lRg
....während des schreibens musste ich tatsächlich mehr als einmal an 'feary' denken.....manchmal treffen reales und virtuelles leben einander dann ja doch....
s.m.s. geniesse ich mal wieder in der exorbitanten dvd-verison. die 1984 von den talking heads gebotene show gehört zum besten was die musikwelt zu bieten hat. mit seinem anarchischem gesang, seiner bizarren körpersprache steht david byrne absolut im mittelpunkt der heads. grossartiges live-event und eine einzigartiges musikabenteuer - zwischen art, new wave, prog und punk – eben „crazy“ byrne
du sagst es
Bestimmt ein Meilenstein. Habe ich aber erst sehr viel später richtig schätzen gelernt, ging damals komplett an mir vorbei.
Aber besser spät als nie!
Und JA,der Film ist wirklich genial.