laut.de-Kritik
Ruhe und Sturm treffen aufeinander und vereinigen sich zu einem einzigen Geschöpf.
Review von Ulf KubankeFür die künstlerische wie popkulturelle Entwicklung der elektronischen Musik weltweit zeichnen vor allen anderen zwei Bands verantwortlich: Tangerine Dream und Kraftwerk. Den musikhistorischen Beitrag von TD - wie ihre Fans sie gern nennen - kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Egal ob als Miterfinder des Ambient, Trance und sogar Industrial oder als Vorreiter von Elektropop bis Techno. Ihr eigentümlicher Cocktail zwischen totaler Avantgarde und melodieseliger Eingängigkeit brannte der Musikwelt ihr unauslöschliches Zeichen ein. So unterschiedliche Künstler wie Bowie, Rammstein und sogar Jack Blacks Tenacious D geben sie als immens wichtigen Einfluss an. Mit dem komplett improvisierten "Ricochet" liefert die Band 1975 ihr Meisterstück ab.
Zu diesem Zeitpunkt haben die Hauptvertreter der sogenannten Berliner Schule schon so einiges hinter sich. Ihr Debüt, das noch mit Klaus Schulze eingespielte Dekonstruktions- Massaker "Electronic Meditation" gilt als Initialzündung des Krautrock und genießt besonders in Großbritannien nahezu kultische Verehrung. Die folgenden Alben erfinden die spacige Flächenkomposition mit und mit dem 1973er Chartbuster "Phaedra" feiern sie bereits einen veritablen internationalen Hitparadenerfolg. Doch alle genannten Wegweiser dienen nur der Vorbereitung. "Ricochet" nimmt alle Stränge auf und verknüpft die Puzzleteile zum ultimativen TD-Kosmos.
Ein Haupteinfluss ihres überirdischen Klangbildes im allgemeinen und dieser Platte im Besonderen sind die die 1966/67 stattfindenden freundschaftlichen Begegnungen Edgar Froeses mit dem Meister des Surrealismus' Salvador Dali. Von diesem außerirdischsten aller Künstler lernt der gebürtige Ostpreuße Multimediales Denken. Es keimt der Wunsch, eine Musik zu erschaffen, die so neu und einzigartig ist, wie die Bilder und Skulpturen des großen Spaniers. "Dali war vielleicht der größte Einfluss in meinem Leben. Vor allem seine Philosophie, so einzigartig und originell zu sein, wie möglich. Ich merkte erstmals, dass wirklich alles möglich ist, solange man ansolut an das glaubt, was man tut."
Dennoch wäre dieses Album ohne den zweiten wichtigen Mann nicht denkbar: Peter Baumann, seit einiger Zeit bereits mit im Boot. Er ist so wichtig für TD, wie Marr für Morrissey bei den Smiths oder Richards für Jagger bei den Stones. Er teilt die Visionen Froeses. Gemeinsam entwickeln sie auf "Ricochet" das Konzept entscheidend weiter. Eine gehörige Breitseite Rock implodiert samt E-Gitarre und Percussion aus dem inneren Kern wie ein Urknall. Dazu gesellt sich ein Hauch romantische Klassik. Und als absolute Innovation bietet das Album erstmals vielschichtige Polyrhythmen, die wie Zahnräder eines Note gewordenen Uhrwerks ineinander greifen. Als Kirsche obendrauf: Die Geburt des ebenso typischen wie hypnotisierenden Sequenzergetüdels, das wohl die meisten von ihrer 1982er Evergreen-Hitsingle "White Eagle" (a.k.a. "Das Mädchen Auf Der Treppe") her kennen.
Nichts von allem hier ist vorproduziert oder gar vorkomponiert. Alles entsteht spontan auf der Bühne während des Gigs. Mitgeschnitten in England und Frankreich, wo TD kurz vorher ein inspirierendes Fusionkonzert mit Nico in Reims gaben, sprudeln beide Parts nur so über vor Ideenreichtum und Spielfreude. Froese und Baumann spielen sich die Bälle zu, als ob es kein Morgen gäbe und hiermit alles erschöpfend gesagt werden müsse, was die Welt bemerken soll.
Der erste Teil - "Ricochet (Part One)" - fungiert als eine Art Ouvertüre. Froese entfesselt ein repetitiv mäanderndes Gitarrenthema zum archaisch pulsierenden Drumbeat. Im Mittelteil übernehmen wabernde Moogsynthies zu hämmernden Sequenzern und lassen den Song abheben wie ein Raumschiff. Ruhe und Sturm treffen aufeinander wie ein Gewitter und vereinigen sich zu einem einzigen Geschöpf.
So intensiv dieser Teil der Reise bereits klingt. "Ricochet (Part Two)" ist der absolute Höhepunkt und möglicherweise der beste Track ihrer gesamten Laufbahn. Bereits die ersten Minuten verzaubern den Hörer und seien als Anspieltipp jedem ans Herz gelegt. So nachtblau wie Chopin, so lieblich wie Debussy ertönt eine Piano-Improvisation, die man - einmal gehört - nie wieder missen möchte. Das Thema perlt sich ins Ohr und gleitet fast unmerklich in ein marodierendes Rudel pluckernder Sequenzer über, die das Lied in pures akustisches Sonnenlicht tauchen. Ein stimulierendes Durchfluten des Publikums von Kopf bis Fuß. In diesen wenigen Minuten bringen Tangerine Dream bereits alles auf den Punkt, wofür sie - nach Baumanns Abgang - in den 80ern gefühlte hundert Alben brauchen.
Doch bevor man es sich zu bequem macht, erstirbt die Pracht urplötzlich. Aller Schönklang weicht schroffen Tönen, die mehr nach Fabrik und Maschine klingen als nach Space. Sie zelebrieren hier eine Art Proto-Industrial lange vor Cabaret Voltaire ("Red Mecca") oder Throbbing Gristle. Wie eine Druckwelle türmt sich alles auf, um über dem verdutzten Hörer zu brechen. Großartiger Moment!
Doch Froese wäre nicht Froese, so er die Menschen in Schockstarre aus dem Mandarinentraum entließe. Nach und nach erobern die warmen Multirhythmen ihr Terrain zurück und fahren das Lied soft herunter, bis es im Orbit aller Klänge versickert wie ein Rinnsal im Wüstensand. Der Clou: Obwohl immens viel simultan passiert und man die einzelnen Mosaikstücke in Gänze erst nach und nach wahrnimmt, kostet "Ricochet" keine Anstrengung. Schon beim ersten Durchgang gleitet man hindurch, ohne sich das Vernommene schön hören oder erarbeiten zu müssen. Alles Surreale passiert ganz selbstverständlich.
Am Ende der Platte weiß man: Mit diesem Opus Magnum hat Edgar Froese sein sich selbst gegebenes Versprechen eingelöst und ein audiophiles Gegenstück zu Dali geliefert. Weiterhören mit den folgenden Highlights "Force Majeure" (1979) und dem fast ebenso grandiosen DDR-Konzert "Quichote" (1980).
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
9 Kommentare
Joah, schon ein echtes Juwel. Wobei ich mich angesichts der Nachbearbeitungswut von Edgar Froese immer wieder frage, ob das auch tatsächlich auf der Bühne so passiert ist oder ob nicht das Album eigentlich erst im Studio entstanden ist.
Egal ... "Force Majeure" war einmal der Grund für mich, Tangerine Dream weiter zu erkunden, "Ricochet" war einige Zeit später der Grund, ihnen die allermeisten wirklich dürftigen Platten der jüngeren Zeit zu verzeihen.
Gruß
Skywise
deine skepsis ist berechtig. jedoch nicht in diesem fall. es gibt den bootlegbeweis.
Ich merke immer wieder, wie mir bestimmte Teile vom "Tangerine Tree" fehlen. Ein Jammer, daß das Projekt nicht länger am Leben gehalten wurde ...
Gruß
Skywise
neee, das täuscht...die inspiration kam einfach durch erneute private berührungspunkte mit deren werk...auslöser war für mich dabei das lautgesprääch mit gabi delgado - u.a. über dali. die assoziation dali - elektromucke brachte mich nach jahren wieder mal zur beschäftigung mit froese.
...und wenn einen dann die muse küsst, soll man das als autor ja nutzen...
Mein erster Berührungspunkt wär tatsächlich GTA5 letztes Jahr. Hatte mir vorher jedenfalls nichts von ihnen angehört.
Hole dies aber seitdem nach. Und nun auch noch ein Meilenstein.
Rares Interview mit Edgar Froese https://www.youtube.com/watch?v=v3wm7ZNgh5…