laut.de-Kritik
Ein durchwachsener Liebesbrief an die Liebe.
Review von Mirco Leier"My mistakes are very loud", erzählte Taylor Swift der Vogue, "Wenn ich einen Fehler mache, hallt er auf der ganzen Welt wieder. Es ist Clickbait, Teil meines Lebens und Teil meiner Karriere." In der Tat hat fast kein anderer Superstar der letzten Jahre eine vergleichbare mediale Kehrtwende erfahren wie die 29-jährige Sängerin aus Pennsylvania. Quasi über Nacht wurde aus "Americas Sweetheart" ein landesweit gehasster Feigling. Grund dafür war ihre jahrelange 'Friede Freude Eierkuchen'-Mentalität und ihr daraus resultierender Unwille, sich bei der Präsidentschaftswahl 2016 klar zu positionieren.
Mit "Reputation" akzeptierte sie ihre neue Rolle: "The old Taylor can't come to the phone right now. Why? Cause she's dead.", sang sie auf "Look What You Made Me Do". Sie legte nur noch mehr Kohlen in das mediale Feuer um ihre Persönlichkeit und begegnete ihrem neuen Bösewicht-Charakter mit offenen Armen. Drama war der neue Mittelpunkt ihres Kosmos, den sie endlos zu umkreisen schien. Beinahe jeder Song und jede Schlagzeile rückten persönliche Fehden in den Mittelpunkt. Egal ob diese schon Jahre alt waren (Kanye West) oder relativ frisch (Katy Perry) Taylor ließ die alten Geplänkel einfach nicht ruhen. Immer wieder musste sie ihren Hatern beweisen, wie wenig sie sich von der negativen Kritik beeinflussen lasse, während sie letzten Endes genau das tat.
So ist es kein Wunder, dass sie langsam an dem Punkt ankam, wo ein Neustart fast schon notwendig schien. Eine Rückbesinnung auf das, was Taylors Musik in der Vergangenheit so großartig und unterhaltsam gemacht hatte. Am Anfang des "ME!"-Videos explodiert eine züngelnde Schlange in tausend Schmetterlinge. Ein visueller Wegweiser, der die neue Marschrichtung vorgibt: Weg mit dem schwarzen Lippenstift, den Lederoutfits und den Strapsen und wieder her mit Pastellfarben, der ollen Klampfe und den altbackenen Texten über die Liebe. Taylor Swift kehrt mit "Lover" zu ihren Wurzeln zurück, hat sich aber auch weiterentwickelt und zeigt sich erwachsener und, ja auch politischer als je zuvor.
"Lover" ist ein Liebesbrief an die Liebe und alle ihre Aspekte: Herzschmerz, Verliebtsein, Trauer, Hoffnung und ja sogar ein bisschen Sex. Doch bevor sie die neue-alte Taylor hinter sich lässt und wieder Hochglanz-Pop für Hochzeiten präsentiert, winkt sie noch ein letzten Mal mit dem Stinkefinger. "I Forgot That You Existed" kommt einem letzten "Fuck You" in Glitter gleich und zieht (hoffentlich) einen Schlussstrich unter vergangene Streitigkeiten.
Die folgenden sieben Songs stellen anschließend unter Beweis, zu was Taylor Swift fähig ist. Nämlich zu soundtechnisch abwechslungsreicher, eingängiger Pop-Musik mit Substanz, die zwar nicht im Stile eine Charli XCX Grenzen sprengt, sich dessen aber auch absolut bewusst ist. Das ist eben Musik für die breite Masse und dementsprechend stellenweise generisch oder auch mal einen Tick zu süß. Aber man kann gerade in diesem Stretch des Albums Taylor und ihren Kollaborateuren (Joel Little und Jack Antonoff) ihr Songwriting-Talent nicht absprechen. Egal ob auf den Slow-Dance Balladen "Lover" und "The Archer" oder den Carly Rae Jepsen/Melanie Martinez-Verschnitten "I Think He Knows" und "Miss Americana & The Heartbreak Prince", die Melodien knallen und die Hooks gehen direkt vom Ohr in die Beine.
Auch die bereits erwähnten politischen Einschläge tauchen bereits hier und da vereinzelt auf. Auf "The Man" setzt sie sich erstmals mit dem alltäglichen Sexismus in der Musikindustrie auseinander: "I'm so sick of running as fast as I can. Wondering if I'd get there quicker if I was a man." Die folgendene High School-Romanze "Miss Americana & The Heartbreak Prince" enthält dann sogar einen doppelten Boden, der als ihr offizielles Statement zur Trump-Wahl gelesen werden kann: "American stories, burning before me. I'm feeling helpless, the damsels are depressed. Boys will be boys then, where are the wise men? Darling, I'm scared." Das ist natürlich nicht so on the nose wie es viele Fans gerne hätten, aber wenigstens kommen ihre ersten politischen Bemühungen nicht so peinlich daher, wie es viele vielleicht erwartet hätten.
Vereinzelte Peinlichkeiten gibt es in der zweiten Hälfte des Albums dennoch. Angefangen mit dem haarsträubend schwachen "London Boy", auf dem Taylor ihrem Gatten Joe Alwyn und seiner britischen Herkunft huldigt. Ihre angestrengten Versuche, englischen Slang in den Song einzubauen, wirken ebenso unpassend wie das Idris Elba-Sample zu Beginn. Richtig unerträglich wird es allerdings erst mit der vorab veröffentlichten Single "ME!", die das Sweetness-Level auf Diabetes-Niveau hochschraubt. Man kann am Ende froh sein, dass (wie so oft) die Teaser-Singles nicht stellvertretend für den Sound der gesamten Platte stehen. Sonst würde man die 60 Minuten nicht ohne Insulin-Infusion überstehen.
Die zweite Single "You Need To Calm Down" stellt dann kurz vor Schluss das größte politische Statement von "Lover" dar. Die Pro-LGTBQ Hymne ist musikalisch zwar eher mittelmäßig, aber letzten Endes wenigstens lieb gemeint. Auch wenn Taylors plötzliche Nähe zur queeren Community etwas befremdlich wirkt. Andere Pop-Musikerinnen unterstützen die Gemeinschaft schon seit Jahren und sind auch weniger plakativ gut damit gefahren. Wenn der Song aber auf der nächsten Pride-Parade gespielt wird, hat Taylor ja letzten Endes doch alles richtig gemacht.
Der Rest der zweiten Hälfte kommt ziemlich durchwachsen daher. Die unglaublich persönliche Ballade "Soon You'll Get Better" und der bombastische "I'm Sorry"-Banger "Afterglow" markieren späte Highlights, wohingegen ich für Songs wie den verführerischen "False God" oder auch den Closer "Daylight" beim besten Willen keine Existenzberechtigung finden kann.
Taylor dürfte mit "Lover" die Herzen der Amerikaner zurückgewinnen, schließlich liefert das Album so rein gar nichts Skandalträchtiges oder Anstößiges. Es liefert aber eben genau so wenig ein kohärentes Album-Erlebnis, denn 18 Songs sind für ein Mainstream Pop-Album, unabhängig vom Künstler, einfach zu viel. Es ist vollkommen in Ordnung, dass Taylor hier nicht wild experimentiert und stattdessen lieber wieder Wischi-Waschi-Liebeslieder schreibt, aber dann sollte man wenigstens den Mut haben, das Fett ein bisschen zu trimmen.
Den meisten wird "Lover" zu langweilig, Single-orientiert und unkreativ sein. Wer aber (wie ich) gerne mal heimlich das Radio anmacht, zu "Shake It Off" mitsingt wenn keiner guckt und bei Lyrics wie "Wrap your arms around me baby boy" keinen Würgereiz bekommt, der wird an Taylor Swifts neuem Album über weite Strecken seine helle Freude haben.
7 Kommentare mit 17 Antworten
Mettengrower a la Lena, mi like.
Taylor Swift hat mit 1989 und Lover zwei richtig gute Alben vorgelegt! Ihr seid bei ihr einfach nicht objektiv! Durchweg drei Sterne bei sehr unterschiedlichen Leistungen finde ich nicht glaubwürdig...
Ist das Problem des Punktesystems, zwischen nem Album was knapp besser als 2 Punkte ist und einem was an den 4 Punkten kratzt gibt es nen qualitativen Unterschied, aber am Ende stehen bei beiden eben 3 Punkte. Könnte man ggf modifizieren (zb die Skala auf 10 erweitern oder halbe Punkte einführen). Verstehe ich seit jeher nicht, warum man sich da so wenig Spielraum gönnt.
Weil die Punktewertung das Unwichtigste an der ganzen Review ist und mehr als eine grobe Stoßrichtung da sowieso keinen wirklichen Sinn macht.
Ich dachte, es gebe kluge Formeln im laut.de-Rechenzentrum, welche die Menge der Noten, Höhe der Intervalle, Anzahl an Instrumenten, Tempi, Takte und Texte analysieren, und schließlich daraus die Sternebewertungen berechnen...? Die Texte sind doch nur dafür da, damit man was zum Scrollen hat.
Sehe ich anders. Natürlich lässt sich anhand des Textes oft schon ableiten, was man von dem jeweiligen Album erwarten kann. Wenn allerdings die letztendliche Wertung so unwichtig ist, warum belässt man es dann nicht gleich beim bloßen Text? Warum sind die Kommentare voll von individuellen Userwertungen?
Unsere Gesellschaft ist so sozialisiert, dass alles messbar bewertet wird. Das beginnt in der Schule nach der 2. Klasse, geht über die Uni und endet bei verklausulierten Arbeitszeugnissen. Kann man gut finden oder kacke, aber wenn man sich - wie laut - dafür entscheidet, die Musik zu bewerten (hier: mit Sternen), dann frage ich mich, warum man sich nicht mehr Beurteilungsfreiheiten nimmt. Der Qualität der Texte muss das doch keinen Abbruch tun. Im Gegenteil: oft geht man hier mit dem Gefühl aus einer Review, dass das Geschriebene so gar nicht zur Bewertung passen mag. Mit einem erweiterten Punktesystem wären solche „Missverständnisse“ seltener.
Ich mag die Taylor und auch ihre Musik. Review geht klar.
Ich bin da bei Gleep. Die Bewertung am Ende soll höchstens eine ungefähre Richtung angeben. Fände es sogar besser, das ganze noch "diskreter" zu machen, nur drei verschiedene Bewertungen, "Empfohlen für jeden/Genreliebhaber/Fans".
Wie gut ein Album ist, lässt sich nicht messen. Daran würde auch eine vergrößerte Skala nichts ändern. Vor allem nicht, wenn sie beschränkt ist, denn selbst, wenn man objektiv messen könnte, wie gut ein Album ist, kann es nicht automatisch auch ein bestmögliches oder schlechstmögliches Album geben, deswegen könnte man nie die beste Bewertung vergeben, da immer noch ein besseres (der Fall vom schlechtesten ist selbstverständlich analog) geben könnte. Da es aber auch ein weiteres, noch besseres Album geben könnte, kann man die zweitbeste Bewertung ebenfalls nicht vergeben. Durch Induktion folgt nun, dass man keine Bewertung vergeben kann, solange nicht sichergestellt ist, dass es ein bestes und ein schechtestes Album gibt.
Dieser Kommentar wurde vor 5 Jahren durch den Autor entfernt.
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"Wenn allerdings die letztendliche Wertung so unwichtig ist, warum belässt man es dann nicht gleich beim bloßen Text? Warum sind die Kommentare voll von individuellen Userwertungen? "
Weil es die schnellste und effizienteste Weise ist, eine grobe Bewertung abzugeben. Wenn ich mir die laut.de Hauptseite oder eine Künstlerbiografie anschaue, bekomme ich sofort einen Überblick, welche Alben evtl. interessant oder besoders reinhörenswert sind (oder auch nicht), ohne mich durch jeden Text wühlen zu müssen. Für eine genauere Einschätzung gibt es dann die Rezi.
Ähnliches gilt für Userwertungen, die selten den Vollumfang einer Rezi haben (oder aber versuchen eine Rezi zu replizieren). Es ist einfach effizient. Wobei viele Kommis hier ja mit .5 Punkten ja auch effektiv eine 10er Skala benutzen.
"Unsere Gesellschaft ist so sozialisiert, dass alles messbar bewertet wird.. dann frage ich mich, warum man sich nicht mehr Beurteilungsfreiheiten nimmt"
Und eben diese Sozialisierung ist mMn nicht immer von Vorteil. Nun kann man eine detailliertere Skala als "größere Freiheit" bezeichnen. Oder man kann der Meinung sein, dass wir Kunst eigentlich auf eine viel komplexere, vielschichtigere und qualitativ komplett anderen Weise wahrnehmen und kategorisieren (sollten), als es sich durch eine quantifizierbare Skala überhaupt ausdrücken lässt. Je feiner eine Skala aber wird, desto mehr wird impliziert, dass diese numerischen Abstufungen tatsächlich existieren oder irgendwie wichtig sind. Bei einer groben Skala ist klar, dass es nie mehr als eine ungefähre Einordnungshilfe sein kann.
"Mit einem erweiterten Punktesystem wären solche „Missverständnisse“ seltener."
Das ist reine Spekulation. Wer sagt denn, dass die Leute dann nicht einfach anfangen zu diskutieren, ob das Album jetzt eine 6 oder 7 ist oder sich eine Rezi wie eine 9 liest, aber nur 7 oder 8 Punkte vergeben wurden?
Bleibe dabei, dass die Skala so, wie sie hier praktiziert wird, halbgar ist. Denn 5 Sterne sind mehr als eine „grobe Skala“, aber mMn zu wenig, um Text/Wertungs-Missverständnissen vorzubeugen. Vergleichbare Seiten wie plattentests.de praktizieren auch die 10 Punkte Skala, und meiner Beobachtung nach gibt es die Diskussionen dort zwar schon auch, aber deutlich seltener als hier, einfach weil das System es hergibt, das Geschriebene passend(er) einzuordnen.
Bin ganz klar bei dir, dass Kunst schwer quantifizierbar ist, und ich hätte nix dagegen, Wertungen ganz abzuschaffen und vielleicht durch ein schriftliches Fazit zu ersetzen. Aber wenn man es praktiziert, dann ist es mir ausdifferenziert aus o.g. Gründen lieber, als ein Mittelding zu machen, was ständig zu Missverständnissen führt.
Joa, kann die Position schon nachvollziehen, bleibe persönlich aber bei meiner Sichtweise, dass ich das so besser finde. Aber ein wirkliches richtig oder falsch gibt es hier ja auch nicht, von daher kann man da ja auch ruhig geteilter Meinung sein.
Dieser Kommentar wurde wegen eines Verstoßes gegen die Hausordnung durch einen laut.de-Moderator entfernt.
Mir gefällt London Boy am besten schone Melodie, die Reime, gepaart mit der fröhlichen melodie machen Spass. Aber ich mag halt auch Pop am liebsten.
Ich find die Review echt in Ordnung. Der Autor betrachtet Taylor + Album neutral, ungehässig. Nicht so, wie der Autor bei spiegel.de, der scheinbar Schiss vor Taylor's Macht hat
Würde da wohl...
Steht kaum zur Diskussion.
Soso, hätte gedacht, die ist Moori zu dünn. Ich sehe sie ungefähr auf Stufe Lena.
50 Millionen Alben und 150 Millionen Singles hat die gute Frau auf diesem Planeten schon verkauft. Ihre Musikvideos haben über 17 Milliarden Aufrufe. Zu ihren Konzerten in den letzten 10 Jahren waren über 10 Millionen Menschen zu Gast (Reputation war die erfolgreichste Tour in der US Geschichte). Über 400 Preise hat Taylor für ihr künstlerisches Schaffen in der Musikwelt erhalten. Sie ist bei den Billboard Music Awards, den BMI Awards und den American Music Awards die Künstlerin mit den meisten Preisen aller Zeiten. Den Grammy fürs Album gab es schon 2 mal. Taylor hat schon 850 Millionen Brutto verdient (erfolgreichste Musikerin des Jahrzehnts in diesem Bereich) und sich einen 200 Millionen $ Plattenvertrag bei Universal gesichert, ihre Master Recordings darf sie auch behalten. Sie ist seit über 4 Jahren die Frau mit den meisten Followern auf Social Media weltweit. Auf dem TIME Magazin war ihr Gesicht schon 3 mal zu sehen. Über 100 Musiker haben mit ihr auf ihren Konzerten performt, sogar Mick Jagger war am Start.
Taylor lädt immer noch Fans zu sich nach Hause ein für eine Albumvorprämiere, besucht schwerkranke Fans im Krankenhaus. Meet and Greets sind kostenlos bei Taylors Konzerten.
Ob Taylor jemals mehr als 3 Sterne von Laut.de für ein Album erhält, ich weis es nicht. Aber ich denke sie wird es verkraften können und mit 29 hat sie noch genug Zeit. Immerhin geschrieben mit Fokus auf die Musik, wenn ich den Spiegel Artikel durchlese könnte ich kotzen.
Und wenn sie alle Arten von Krebs heilen könnte... hier geht es um ihre Musik. Und diese ist auf "Lover" für manch Gemüte eben eher Durchschnittsware.
Dass jegliche "Audio-Gülle" Erfolg haben kann, ist doch nicht neu.