laut.de-Kritik

Das beste Comic-Heft, das du nie gelesen hast.

Review von

Washington diente der Indie-Szene der 80er und 90er als ein fruchtbarer Brutkasten. Subgenres wie Post-Hardore und Emo schlugen hier erste, tiefgreifende Wurzeln, deren Ausläufer bis heute noch in der Musik ihrer Trittbrettfahrer zu hören sind. Doch inmitten der mittlerweile als Grundpfeiler der Szene anerkannten Größen wie Fugazi, Modest Mouse, oder Rites of Spring schaffte es eine Band nur bedingt, den urbanen Untergrund zu verlassen, aus dem sie gekommen waren. In Fankreisen haben die vier Jungs von The Dismemberment Plan längst Ikonen-Status erreicht, aber wird man auf einer Hausparty gegen seinen Willen von Musiknerds mit ihren 'Geheimtipps' vollgelabert, dann fällt ihr Name doch eher selten.

Einen Anteil daran hat sicherlich der Fakt, dass sich das Quintett um Sänger Travi Morrison bereits 2003 auflöste, kurz bevor es jetzt auch ganz offiziell cool war, verkopfte Indie-Musik zu hören. Andererseits saß die Band auch musikalisch schon immer ein wenig zwischen den Stühlen. Bis heute weiß keine Szene so recht, wer sie eigentlich für sie claimen will. Sind sie jetzt Post-Hardcore, Emo, Dance-Punk, Math-Rock, oder muss dafür gar erst noch ein eigenes Genre erfunden werden, wie der Musiknerd jetzt sicher sagen würde. Sicherlich kann man es sich einfach machen und ihre Musik unter Indie-Rock deckeln, aber damit wird man all den Ideen, die darin einfließen, einfach nicht gerecht.

Im Grund gilt das für jedes ihrer Alben, aber keines destilliert die Reize dieser Band so spaßig auf einen bekömmlichen Schluck Quarter-Life-Crisis herunter wie "Emergency & I". Das dritte Album von The Dismemberment Plan klingt, als hätten sich ein paar auf dem Zahnfleisch gehenden ITler in den Keller ihrer Uni eingeschlossen und mit dem unbekümmerten Gedanken, dass außer ihres Aufnahmegerätes eh niemals jemand zuhören würde, einfach jede Idee, die jemand in den Raum warf, irgendwie in einen Song verwurstelt.

Im direkten Vergleich mit seinen monolithischen Zeitgenossen klingt das Album in der Folge deutlich verkopfter. Die Songs sind in unorthodoxen Taktarten geschrieben und springen wild zwischen Akkordfolgen umher. Morrisons Gesang klingt noch quietschiger, noch explosiver, als es der damalige Indie-Status Quo erlaubte. Was The Dismemberment Plan allerdings wunderbar gelingt, ist nicht über diese Verkopftheit zu stolpern, geschweige denn, sich unentwegt selbst daran aufzugeilen. Diese vier nervösen Wracks mögen Spaß daran haben, ihre Instrumente Amok laufen zu lassen, aber sie wissen eben verdammt nochmal auch, wie man diesen Spaß auf seine Zuhörer*innen überträgt: Mit larger than Life-Hooks, effektiv eingesetzte Powerchords und dem grooviesten Noodling jenseits von Fugazi. Sogar Ideen und Melodien aus R'n'B und Hip Hop tauchen auf dem einen oder anderen Song auf.

Dieser nerdige Jam-Gedanke, dieses 'Ich stotter für drei Minuten ins Mikro wie unterfickt ich bin', und wir machen IRGENDWIE nen Song draus, kombiniert mit dem melodischen Rückgrat, gibt diesem Kleinod fast schon aus Versehen eine revolutionäre Identität, die so zeitlos ist, dass kein Mensch mit der Wimper zucken würde, würde man behaupten, dieses Album sei gestern erschienen. Alleine besagter vertonter Nervenzusammenbruch auf "Girl O' Clock" klingt in etwa so, als hätten Black Midi ernsthaft versucht, einen Pop-Song zu schreiben, 18 Jahre vor ihrer Gründung.

Diese Momente finden sich zuhauf. "The Jitters" klingt nach Radiohead, hätte Thom Yorke IT studiert. Auf "Memory Machine" bleept und bloopt das Keyboard, irgendwas schreit herum wie eine nervöse Alarmsirene, während das unwiderstehliche Spiel von Drummer Joe Easley hintergründig den Teppich für eine Weezer-eske Pop-Hook ausrollt, vor der man niederknien möchte. Auf "What Do You Want To Say" hämmern in der Strophe die Gitarren-Akkord wie Eispickel in das Soundbild, nur um wiederum in der Hook zu verstummen, wenn Morrison das Maximum aus seinem Stimmorgan rausholt.

"Emergency & I" vertont, wie es sich anfühlt, von seinen eigenen Gefühlen überfallen zu werden, aber es verwehrt sich diesem Überfall nicht, es romantisiert ihn auch nicht, es lässt ihn einfach geschehen. Panikattacken, Depression, Isolation, Hornieness, Liebe, Wärme, Kälte: Das Quintett aus Washington sprintet durch das emotionale Kaleidoskop, das sich nach der Adoleszenz zu drehen beginnt, bis einem schwindelig wird. Doch so wild die Band hier auch musikalisch mit den Armen wedelt, sie berauben die Szenarien, die ihr Frontmann entspinnt, nie ihrer Verständlichkeit. Die Bilder, die er bemüht, kennt jeder, der über zwanzig ist und den Begriff Anxiety nicht erst noch googeln muss.

Auf einer Party dumm in der Ecke rumstehen, weil man sich einredet, nicht willkommen zu sein, und das eine Bier zu viel, um diesem Gefühl zu entkommen. Nachts aus dem Fenster starren und sich fragen, wer einem eigentlich die echten Freunde sind und warum man eigentlich in diese verdammte Stadt gezogen ist. Die Jagd nach der Illusion, dass hinter dem Zaun das Gras am grünsten wächst. Wenn nicht hinter diesem, dann hinter dem nächsten und dem darauffolgenden Sprint in die Stolperfalle.

Musikalisch klingt "Emergency & I" jedoch nie wirklich so niederschlagend, wie es sich zu Teilen liest. Es fällt automatisch schwerer, sich auf "The City" von Zeilen wie "And this I where I live, but I've never felt less at home" die Laune vermiesen zu lassen, wenn auf dem gleichen Song auch der einzige Ausschrei der Worte "Since You Been Gone" wiederfindet, der Kelly Clarksons Version in seiner Katharsis Konkurrenz machen kann. Gefolgt von einer Synthline, zu der man sich einfach bewegen muss.

Das soll allerdings keinesfalls den Anteil der Texte am Reiz dieser LP schmälern. Morrison bebildert diese Gefühle mit einer fast schon poetischen Gleichgültigkeit. Einem schulterzuckenden 'Machste nix', begleitet von Reimen und Sprachbildern, die teilweise so direkt ins Schwarze treffen, dass man kurz Luft holen muss. "If she spins fast enough the broken pieces of her heart will stay together, but even a Gyroscope can't spin forever" sprech-singt Morrison auf "Gyroscope" und gießt damit unter Mithilfe von einem Riff, das sich nervös am Rockzipfel herumzupft, perfekt das Chaos einer nicht überstanden Trennung in Ton.

Gleiches gilt für die Tristesse von "Spider In The Snow". Jede*r der schon mal alleine in einer fremden Stadt überwintern musste, hat bei diesen Worten direkt Bilder vor Augen: "Different scene outside your window now / Same VCR, same cats / Different people at the very same job / similar alley, different cats / The trash goes out on tuesday now / You gotta make a not about that.". Wir haben gerade 30 Grad, und trotzdem kommt es mir so vor, als sei alleine durch das Schreiben dieser Worte mein Zimmer 10 Grad kälter geworden.

Was The Dismemberment Plan trotz dieser Inhalte davon abhält, in den melancholischen Doomer-Circlejerk einzutauchen, den die Emo-Alben der 90er gerne mal abhielten, ist ihr Hang zur Nüchternheit. Diese Musik mag einer ganzen Generation an deprimierten, desillusionierten Twentysomething aus der Seele sprechen, aber hält sich nicht lange damit auf, sich selbst zu bemitleiden oder irgendwas überdramatisieren. Ja, dieses Band sind Loser, aber sie sind nicht die "Pinkerton"-Rivers Cuomo-Art Loser, von der man sich peinlich berührt fühlt, weil sie einem immer wieder unter die Nase reiben was für Loser sie sind, sondern die Art Loser, denen man begegnet, wenn man nach zwei versemmelten Semestern entgeistert in den Spiegel schaut.

Außerdem ist auch in diesem teilweise außerirdisch wirkenden Mikrokosmos ja nicht alles schlecht. "You Are Invited" erzählt über das krötenhafte Klackern einer Drum-Machine eine wunderschöne Selbstfindungsgeschichte. Und bevor man sich fragen kann, ob da gerade im Hintergrund irgendwo ein Saxophon dudelt, umarmen einen die euphorischen Gitarren im Refrain. Der Song fühlt sich an, als würde man verloren in der Crowd eines Konzerts umherirren, bis einem plötzlich die Band selbst eine Hand reicht und einen jubelnd von der Bühne in die Hände hundert neu gefundener Freunde schubst.

Auf "8 ½ Minutes" lassen die Amis dann buchstäblich die Welt untergehen und schießen mit Atombomben auf den Mond. Das rückt eine weitere Facette dieser LP in den Vordergrund, die sie so einzigartig macht: Ihr Humor. Alles daran, der hektische Gesang, die stetig neue Haken schlagende Instrumentierung, selbst das verdammte Cover strotzen vor Verspieltheit. The Plan schreiben keine Schenkelklopfer, aber sie lassen sich angesichts des Weltschmerzes, der sie umtreibt, ihr Lächeln nicht aus dem Gesicht zaubern, so müde es auf manchen Songs auch aussehen mag.

"Emergency & I" ist einzigartig. Bis heute gibt es nahezu nichts Vergleichbares. Es ist gleichzeitig emotional so universell greifbar und musikalisch so abstrakt, wie es nur ganz wenige Alben sind. Wie der Fehldruck einer bekannten Comic-Heft-Reihe, der irgendwo auf einem Speicher verstaubt. Es ist das beste Comic-Heft, das man niemals gelesen hat, voller Schreibfehler, voller nachgezeichneter Details, voller altbekannter Charaktere, die Dinge tun, die man für unmöglich gehalten hätte. Ein Querläufer, der durch die schiere Freude am Regelbruch in die Genialität stolpert.

Folgt man dem orangenen Strichmännchen erstmal in seine dreidimensionale Panikattacke, dann schneidet man sich entweder an den vielen Ecken und Kanten die dort lauern, oder man wühlt sich durch dieses Sperrfeuer an Ideen hindurch, bis man schlussendlich wie auf Wolken fällt. Dieses Album ist vieles: Fordernd, catchy, deprimierend, verwirrend, lustig, aber je mehr man die einzelnen Schichten dieser Genre-Zwiebel zurück puhlt, desto mehr drängt sich eine Bezeichnung auf, die die Band selbst ihrer Version des Weltuntergangs andichtet: "Its fucking beautiful is what it is".

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. A Life Of Possibillities
  2. 2. Memory Machine
  3. 3. What Do You Want Me To Say?
  4. 4. Spider In The Snow
  5. 5. The Jitters
  6. 6. I ♥ A Magician
  7. 7. You Are Invited
  8. 8. Gyroscope
  9. 9. The City
  10. 10. Girl O'Clock
  11. 11. 8 1⁄2 Minutes
  12. 12. Back And Forth

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